Wikimedia und die politische Bedeutung von freiem Wissen
Ein Kommentar von Nikolas Becker*
Bildung und freies Wissen unterliegen politischen Restriktionen, die sich nur auf EU-Ebene wirksam ändern lassen. Das meint Wikimedia, der Förderverein hinter der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Schon bald könnte die Organisation deshalb eine Vertretung in Brüssel eröffnen, um sich dort in die Debatte um eine europäische Wissensgesellschaft einzumischen. Nikolas Becker ist Mitglied des Präsidiums der Wikimedia Deutschland. Anhand dreier Beispiele erklärt er, wo er Handlungsbedarf sieht.
Würde es einem Förderer von Bildung und Wissen nicht besser anstehen, sich aus der politischen Meinungsbildung herauszuhalten, sich zurückzunehmen und einen neutralen Standpunkt einzunehmen, wie er auch als eines der obersten Prinzipien der Wikipedia festgeschrieben steht? Nein, denn die Freiheit von Bildung und auch die gemeinschaftliche Textarbeit, wie sie durch das Wiki-Prinzip revolutioniert wurde, stehen des öfteren zur politischen Disposition.
Freies Wissen zukünftig gegen Gebühr?
So unterbreitete etwa vor Kurzem Pierre Lescure, ehemaliger CEO des französischen Bezahl-Fernsehsenders Canal+, für die französische Regierung den Vorschlag, frei lizenzierte Inhalte zukünftig mit einer Gebühr versehen zu wollen, da diese die Entwicklung kommerzieller Angebote bremsen würden. Diesen Vorschlag wolle er auch auf europäischer Ebene vorbringen. Zu derart versuchter Behinderung von Wikipedia und freien Inhalten kommen internationale Abkommen hinzu, die das unzeitgemäße Urheberrecht noch weiter zementieren. Da wären zum Beispiel das im vergangenen Jahr heiß diskutierte und de-facto gescheiterte Handelsabkommen zur Bekämpfung von Produktfälschungen (ACTA), sein Nachfolger, das Europäisch-kanadische Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) oder die Richtlinie zum Schutze der Rechte an geistigen Eigentum (IPRED2). Diese Verträge werden von den Ländern der EU gemeinsam verhandelt oder sind sogar originäre EU-Gesetze.
Die eigenen Bedenken den nationalen Parlamentariern und Regierungen vorzutragen, kann daher nur ein Teil der Arbeit sein. Wichtig, um Kritik an CETA, IPRED2 und Co. rechtzeitig zu äußern, ist der Dialog mit den entscheidenden Europapolitikern. Die europäischen Wikimedia-Vereine müssen wissen, wenn betreffende Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht werden. Sie müssen gegebenenfalls ihre Bedenken äußern können und sollten Gelegenheit haben, eigene Ideen zur Ausgestaltung und Verbesserung der Wissensgesellschaft vorzubringen.
Ideen für eine europäische Wissensgesellschaft
Bildung und Wissenschaft sind historisch anerkannte Grundpfeiler friedlicher Partnerschaft und wirtschaftlicher Prosperität. Jenseits der umstrittenen Bologna-Reformen sind daher gerade für den Bereich von Bildung und Wissenschaft weitere Integrationsschritte nötig, um Europa technologisch und wirtschaftlich von einer Gemeinschaft, die rund 40 Prozent ihres zukünftigen Haushalts in den Agrarsektor investieren wird, zu einer modernen Wissensgesellschaft umzugestalten.
An welchen Punkten jedoch können und müssen wir ansetzen? Stellvertretend für eine Vielzahl von Problemen, Ideen und ungelösten Fragen seien hier drei Baustellen genannt, an denen sich mit wenig Aufwand viel für Bildung, Wissenschaft und demokratiefördernden Journalismus erreichen ließe.
Offener Zugang zu Forschungsergebnissen
Forschungsergebnisse werden üblicherweise in Fachjournalen veröffentlicht. Forscher oder andere Interessierte, die sich einen solchen Artikel ansehen wollen, müssen dann ein Entgelt an den jeweiligen Verlag oder Datenbankbetreiber entrichten, um auf diese Ergebnisse zugreifen zu können. In der Regel bezahlen Universitätsbibliotheken eine jährliche Abgabe an die Verlage, die schon einmal 16.000 Euro oder mehr betragen kann – wohlgemerkt für eine einzelne Zeitschrift. Interessierte Mitglieder der Öffentlichkeit zahlen circa 25 Euro je Artikel.
Ein legitimes Modell, möchte man zunächst meinen, ganz genau wie auch Romanautoren ihre Bücher nicht verschenken wollen, sollen schließlich auch die wissenschaftlichen Autoren Geld verdienen. Allerdings werden dabei zwei gewichtige Unterschiede zwischen Belletristik- und Forschungsliteratur übersehen: 1. Wissenschaftler erhalten kein Geld für verkaufte Ausgaben ihrer Texte. Nicht selten müssen sie sogar mehrere tausend Euro dafür zahlen, ihren Artikel abdrucken zu lassen. 2. Die Arbeit der Forscher ist bereits durch ihr Gehalt finanziert, im Voraus und – das ist entscheidend – häufig zu einem Großteil aus Steuermitteln.
So kommt es zu der bizarren Situation, dass Universitäten dafür zahlen müssen, auf die Arbeit ihrer eigenen Mitarbeiter oder die von ebenfalls steuerfinanzierten Kollegen zugreifen zu können. Der interessierte Laie zahlt ebenfalls zweifach: Steuern für Wissenschaft und Forschung und ein Entgelt an den Verlag.
Doch bei der Debatte um den “offenen” Zugang geht es nicht nur ums Geld. Diskutiert wird auch, wie die Forschungsergebnisse anschließend weiter genutzt werden können. So wäre es denkbar, die Publikationen unter eine freie Lizenz zu stellen, die es beispielsweise erlauben würde, Schaubilder und Grafiken in ein Lehrbuch zu übernehmen – oder vielleicht auch in den entsprechenden Wikipedia-Artikel.
Schließlich sprechen auch handfeste ökonomische Überlegungen für einen freien Zugang zu Forschungsergebnissen. Mehrere Studien, unter anderem auch ein Report im Auftrag der britischen Regierung bescheinigen: “Open Access” bringt innovationsfördernde Potentiale für Forschung und Wirtschaft mit sich.
Unter dem Schlagwort Open Access wird daher an verschiedenen Alternativmodellen gearbeitet, die das Problem beheben und zugleich wissenschaftliche Qualität erhalten oder verbessern sollen. In Großbritannien und Deutschland sind mittlerweile bereits entsprechende Regelungen auf dem Weg. Allerdings weisen diese noch zwei Probleme auf: Erstens sehen beide Entwürfe keine Möglichkeit der Weiternutzung vor, wie sie für die genannten Beispiele notwendig wäre und auch bereits in der “Berliner Erklärung” festgehalten wurde. Zweitens findet Forschung häufig nicht mehr im nationalen Rahmen statt. Internationaler wissenschaftlicher Austausch ist in den meisten Forschungsfeldern die Regel. Mithin müssen auch europaweite Lösungen gefunden werden.
Staatliche Werke und Open Data
48.431 Bilder der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA werden in Wikimediaprojekten verwendet. Es gibt Abbildungen von Raumfahrtzeugen, Himmelskörpern und geologischen Funden. Selbst das berühmte Blue Marble Bild ist verfügbar und hat sogar seinen eigenen Wikipedia-Artikel bekommen.
Von der europäischen Raumfahrtagentur ESA lässt sich jedoch nicht ein einziges Bild im Wikimedia-Universum finden. Woran liegt das? Hier kommt das zweite “Open”-Schagwort ins Spiel, nämlich das der offenen (Regierungs-)Daten. Hinter dem schlichten Begriff “data” verstecken sich sämtliche von öffentlichen Behörden erstellten Daten und Werke. Seien es Wetterdaten, Messwerte zur Umweltbelastung oder eben auch von Staatsbediensteten erstellte Fotografien – wie die der Astronauten.
Ein gewichtiges Argument für die Forderung nach Open Data, also der Freigabe staatlicher Werke, ähnelt dem der Open-Access-Debatte: Die Erstellung von Daten, Fotografien, Texten, etc. durch Mitarbeiter der Verwaltung wird in der Regel bereits vom Steuerzahler vorab finanziert. Es ist daher angemessen, dass dieser – sei es als Privatperson, Forschungseinrichtung oder auch als kommerzielles Unternehmen – Zugriff auf und Verwendungsmöglichkeit für ebendiese von ihm finanzierten Daten bekommt. Das typische Hauptargument für urheberrechtlichen Schutz entfällt bei staatlichen Werken schlicht: Es ist kein (ökonomischer) Anreiz erforderlich, um sie zu erstellen. Mit der EU-weiten Einführung von Open-Data-Gesetzen ließe sich also ein ungeheurer Informationsfundus freisetzen, der der gesamten Gemeinschaft als Innovationsantrieb dienen könnte.
Panoramafreiheit und Urheberrecht
Warum gibt es kein Bild des Brüsseler Atomiums in der Wikipedia? Warum darf der beleuchtete Eiffelturm nicht von jedem abgedruckt werden, die beleuchtete Kuppel des Berliner Reichstags aber schon?
Grund für diese Ungleichheit sind Unterschiede im nationalen Urheberrecht. Im Bezug auf öffentlich sichtbare Bauwerke kommt hier eine Schranke des deutschen Urheberrechts, Panoramafreiheit genannt, zur Geltung. Diese Ausnahme erlaubt es, Aufnahmen von Gebäuden anzufertigen, solange sich der Fotograf auf einer öffentlichen Straße befindet – selbst dann, wenn der betreffende Architekt noch Urheberrechte an dem Gebäude hat.
Eine solche Freiheit gewährt das Recht dem Bürger in den meisten EU-Ländern, nicht jedoch in Italien, Belgien und Frankreich, was die eingangs erwähnten Unterschiede erklärt.
Diese fehlende Regelung behindert nicht nur Projekte wie Wikipedia, die dadurch Artikel von bedeutenden Gebäude nicht illustrieren können. Auch Wissenschaftler und Journalisten werden in ihrer Arbeit behindert, indem sie bestimmte Fotos mangels Panoramafreiheit nicht veröffentlichen dürfen. Diese Regeln müssen daher schnellstmöglich europaweit harmonisiert werden.
Wie die Beispiele zeigen, ist dringend weiteres zivilgesellschaftliches Engagement gefragt, um den zukünftigen Herausforderungen einer modernen europäischen Wissensgesellschaft zu begegnen. Mit seiner breiten Unterstützung durch tausende Autoren und Leser, vereint Wikimedia unterschiedlichste Perspektiven und ist gut geeignet, um die Debatte mit Input zu versehen, der auf einer Kultur des Teilens und der Transparenz beruht. Mit ihrem offenen Ansatz kann die Wiki-Bewegung einen starken Beitrag zur Transparenz der EU-Politik leisten und helfen, die europäischen Debatten an eine weltweite Öffentlichkeit zu tragen.
* Der Autor ist Mitglied des Präsidiums von Wikimedia Deutschland – Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens e. V. Hinter der Organisation mit dem langen Namen verbirgt sich der deutsche Förderverein der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Gemeinsam mit 38 weiteren Länderorganisationen fördert der Verein die ehrenamtlichen Autoren des freien Lexikons und anderer Wissensprojekte, entwickelt die verwendete Wiki-Software weiter, klärt über Wikipedia, freies Wissen und freie Bildung auf und – er bringt sich in den politischen Prozess ein.
Die E-Plus Gruppe unterstützt das Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft beim Aufbau einer Plattform zu Fragen der Internet-Regulierung. Der vorstehende Artikel erscheint im Rahmen dieser Kooperation auf UdL Digital.