WBGU-Gutachten: Digitalisierung als Motor für Nachhaltigkeit
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) will mit seinem neuesten Hauptgutachten einen Beitrag dazu leisten, die „wohl wichtigsten Entwicklungen der jüngeren Moderne“ zusammenzudenken: die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit – hier wird insbesondere die Erderwärmung samt Folgen hervorgehoben – und die Fortschritte im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien. Es sei offenkundig, dass die Digitalisierung positive wie negative Effekte in Bezug auf die Nachhaltigkeit haben kann, schreiben die Wissenschaftler. Ebenso offenkundig sei aber auch, dass es bisher an einer systematischen Analyse der Chancen und Risiken sowohl für Deutschland als auch den globalen Kontext mangelt.
Vor diesem Hintergrund attestiert der Beirat „nicht nur große Handlungsdefizite, sondern auch eine eklatante Forschungslücke“ und fordert „wirksame politische Anreize und Prozesse“, um die „Kardinalherausforderungen ‚Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen‘ und ‚digitale Revolution‘ endlich gemeinsam zu betrachten“. Dazu werden entsprechende Handlungs- und Forschungsempfehlungen abgegeben.
Zwei zentrale Herausforderungen
Die zwei grundsätzlichen Herausforderungen liegen aus Sicht des WBGU darin, die Entwicklungen der Digitalisierung wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch so einzuhegen, dass sie in all diesen Bereichen nachhaltig wirken und keine negativen Entwicklungen befeuern sowie die Potenziale der Digitalisierung darüber hinaus so auszurichten, dass sie Nachhaltigkeit auch aktiv unterstützen – sei es auf dem Felde des Klimaschutzes oder der Entwicklung einer nachhaltigen Energieversorgung. Die Geschichte lehre aber, so der WBGU, dass eine solche Ausrichtung nicht automatisch passiert und folgert daraus:
„Statt auf die freiwillige Selbstzähmung von Technologieentwicklern und politökonomischen Interessen zu hoffen, müssen gemeinwohlorientierte und demokratische Staaten sowohl eine starke antizipative Kapazität aufbauen als auch ein strategisches Bündel von Institutionen, Gesetzen und Maßnahmen schaffen. Nur so können die digitalen Kräfte nutzbar gemacht und zugleich eingehegt werden.“
Zwei notwendige Kurskorrekturen
Der Ausgangspunkt dafür sei eine „doppelte Kurskorrektur“: Zum einen müsse sich die Diskussion zur „Großen Transformation zur Nachhaltigkeit“ verändern. Diese blende nämlich bisher „die fundamentalen Dynamiken der Digitalisierung, der Chancen und Risiken etwa von algorithmenbasierten Entscheidungsprozessen, oder der Verschränkung unserer physischen Welt mit virtuellen Räumen“ fast vollständig aus. Zum anderen müsse sich auf Seiten der „gesellschaftlichen und politischen“ Digitalpioniere sowie der Digitalisierungsforschung etwas verändern. Bisher würden Nachhaltigkeit und Digitalisierung schlichtweg nicht zusammengedacht. Notwendig sei jedoch, dass die Digitalisierung nachhaltig gestaltet und als „mächtiges Instrumentarium zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele genutzt“ wird, schreiben die WBGU-Autoren.
Digitalisierung und Nachhaltigkeit global denken
Elementar für eine erfolgreiche Gestaltung der Digitalisierung sei laut WBGU eine „transnationale Politik-Architektur“. Trotz eines derzeit „strauchelnden Multilateralismus“ sind gemeinsame Rahmenbedingungen und „ethisch-begründete Grenzen“ notwendig. Diese betreffen sowohl globale Arbeitsmärkte, Bildungssysteme als auch die „Mammutaufgabe, die Machtverschiebungen im KI-Zeitalter zugunsten einer pluralistischen mündigen Gesellschaft auszurichten“. Die Digitalkompetenzen von „Ministerien, Parlamenten, Stadtverwaltungen, Nichtregierungsorganisationen, Nachhaltigkeitsforschungsinstituten, Medien und internationalen Organisationen“ müssen erheblich verbessert und mit den „Nachhaltigkeitstransformationen“ verbunden werden.
Der WBGU betont besonders die Rolle der EU. Während diese zwar bereits mit der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und den Arbeiten an einem gemeinsamen „Datenraum“ eine Vorreiterrolle einnehme, fehle auch auf europäischer Ebene eine „notwendige, umsetzungsorientierte Verzahnung von Nachhaltigkeit und Digitalisierung“. Die EU soll sich für einen UN-Gipfel 2022 zum Thema „Nachhaltigkeit im digitalen Zeitalter“ einsetzen und eine „EU-Strategie für Nachhaltigkeit im digitalen Zeitalter“ entwickeln.
Eine weitere wichtige Rolle spielen laut WBGU die „Tech-Communities“ und Digitalunternehmen. Diese können bei mangelnder „Steuerung oder Gestaltung“ der Digitalisierung durch Staaten oder internationale Organisationen über die verschiedenen Ebenen hinweg agieren und „Potenziale für Nachhaltigkeitstransformationen“ verwirklichen. Gleichzeitig sollen ein harmonisiertes Wettbewerbsrecht und eine angemessene Besteuerung der digitalen Unternehmen dafür Sorge tragen, dass die Vorteile der Digitalisierung auch der Öffentlichkeit zu Gute kommen. Zudem soll die „öffentlich-rechtliche“ Bereitstellung von Infrastrukturen der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) eine gesamtgesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.
Digitalisierung für Nachhaltigkeit einsetzen
Bei der Erreichung von Nachhaltigkeitszielen könne die Digitalisierung unter anderem beim Monitoring des Ressourcenverbrauches in der Industrie und beim Umstieg auf erneuerbare Energien helfen. Einen wichtigen Beitrag zur Förderung nachhaltigen Handelns könne die Digitalisierung aber auch dadurch leisten, dass sie hilft, ein „kollektives Weltbewusstsein“ zu schaffen. Dafür sollen zum Beispiel Plattformen mit Nachhaltigkeitsorientierung gefördert werden.
Auch in der Entwicklungsarbeit sieht der WBGU große Potentiale durch die Digitalisierung. Beispiele hierfür seien eine verbesserte Koordination bei humanitären Krisen oder Bemessung von Entwicklungsfortschritten. Von grundsätzlicher Bedeutung sei hier auch die „Überwindung der digitalen Kluft“. Zugänge zu digitalen Angeboten müssen durch Investitionen in den Ausbau der Infrastrukturen bezahlbar werden. Mithilfe der Möglichkeiten kooperativer Plattformtechnologien sollen zudem Stadtentwicklung, urbane Mobilität und Gesundheitsversorgung „inklusiv“ gestaltet werden können.
In puncto Datenpolitik betont der WBGU die Notwendigkeit der nationalen und globalen Sicherung von Datenschutz, informationellen Selbstbestimmung und Datensicherheit. Zudem fordert der WBGU eine „konsequente“ Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten bei der Formulierung staatlicher oder wirtschaftlicher Strategien zum Umgang mit Daten. Auf Algorithmen basierte Entscheidungen sollen transparenter, stärker reguliert und für „Betroffene gerichtlich überprüfbar“ werden.
Nachhaltigkeit in der Digitalisierungsforschung und umgekehrt
Der Wissenschaft schreiben die Autoren ins Stammbuch, die grundlagenorientierte Forschung weiterzuentwickeln. Dazu sollen bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine Senatskommission „Nachhaltigkeit in der Digitalisierungsforschung“ eingerichtet und universitäre Leitlinien für Forschung und Entwicklung überarbeitet werden. Darüber hinaus brauche es mehr transdisziplinäre anwendungsorientierte Forschung. Forschungsprogramme für Nachhaltigkeit und Digitalisierung sollten dazu gegenseitig ergänzt werden. Außerdem brauche es „Impulse für [eine] nachhaltige Digitalisierung in der industriellen Forschung“.
Der vorstehende Artikel erscheint im Rahmen einer Kooperation mit dem Tagesspiegel Politikmonitoring auf UdL Digital. Christian Krug schreibt als Redakteur zur Digitalpolitik.