UdL Digital Talk Nachbericht: Die Herausforderungen der neuen Arbeitswelt
Qualifizierung, Weiterbildung, flexibles Arbieten, Teilhabe und Transparenz – so lauten die strategischen Empfehlungen von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, und Dr. Sarah Müller, Geschäftsführerin der kununu GmbH. Am Vorabend des Weltfrauentags diskutierten Heil und Müller im Telefonica Basecamp zum Thema „New Work: Bringt uns die Digitalisierung Gleichberechtigung in der Arbeitswelt?”
Wie arbeiten wir in 10 bis 15 Jahren?
„Entscheidend ist, was in den 10 Jahren bis 2025 geschieht. Es werden rund 1,3 Millionen Fachkräftejobs verschwinden aber 2,1 Millionen neue Jobs entstehen“,
sagte Heil, man müsse diesen Wandel gestalten und als Politik das Richtige tun. Müller, die mit kununu nach eigenen Angaben die größte Arbeitgeber-Bewertungsplattform in Europa vertritt, sieht wichtige Trends im Hinblick auf die Ansprüche der Arbeitnehmer. Immer wichtiger würden Flexibilisierung, Home Office und Kinderbetreuung.
„Arbeit verändert sich, Erwartung an Arbeit verändert sich“
Für Heil gibt es eine essentielle Facette in der Gestaltung des Arbeitswandels, „es verändert sich die Arbeit und es verändert sich auch die Erwartung an Arbeit“, die Ansprüche zueinander veränderten sich deutlich und hier müsse die Politik agieren. Denn die sogenannte Generation Y „hat eine andere Arbeitseinstellung, ist stärker interessiert an Vereinbarkeit von Beruf und Familie, auch Freizeit wird anders gestaltet als früher“. Der Erwerbsverlauf ist neu und auch darauf müsse die Politik reagieren, wenn junge Menschen künftig nach der Ausbildung erst in Vollzeitarbeit gelangten, später in Teilzeit die Kinderbetreuung organisieren, und schließlich zurückkehren in Vollzeit bevor im höheren Berufsalter wieder Teilzeitmodelle greifen, „dieser Erwerbsverlauf stellt hohe Ansprüche an eine flexible Altersvorsorge“.
Ist Home Office eine Lösung?
„Wir haben 300.000 bewertete Arbeitgeber auf unserer Plattform, die wenigsten davon bieten flexible Arbeitszeiten und Arbeitsorte“, sagte Müller,
„Das Thema Future of Work ist sehr unterschiedlich präsent in den einzelnen Branchen, Vorreiter sind etwa digitale Berufe“,
Nachholbedarf gebe es in traditionelleren Branchen wie Textil, Druck und Handwerk. Heil ergänzte, dass es hier „einige Faktoren gibt, die zusammenwirken. Zum einen die Demographie und die gute Lage am Arbeitsmarkt, es gibt mehr Stellen für immer weniger Bewerber“. Und ab 2025, wenn die Babyboomer in Rente gingen, werde dieser Mangel noch grösser, das betreffe dann auch Gewerkschaften und Tarifstrukturen gerade in den von Müller erwähnten traditionellen Branchen. Für Heil sind flexible Löhne und Arbeitszeiten, inklusive Home Office, eine mögliche Lösung.
„Eine Studie unserer Plattform gemeinsam mit Kienbaum zeigte, dass 11Prozent der Arbeitnehmer auf Gehalt verzichten würden, wenn sie im Gegenzug mehr Freiheit in der Arbeitszeitgestaltung bekommen“,
ergänzte Müller.
Warum „New Work“ einen Mentalitätswandel erfordert
Der Mensch „ist ein Gewöhnungstier“, die rasante Beschleunigung der Zeit und der viel schnellere Wandel sei laut Heil eher das Problem als etwa der vorhersehbare und langsame Wandel bei der damaligen Strukturänderung der Industrie im vorigen Jahrhundert. Die Menschen hätten heute viele Sorgen vor der Zukunft. Die Politik müsse deshalb die Chancen aufzeigen. „Ich wünsche mir zwei Sachen von der Politik“, skizzierte Müller,
„mehr Flexibilität und mehr Flexibilisierung, denn nicht alle Arbeitnehmer sind gleich und nicht alle wollen Sicherheit“.
Weil der Wandel in jedem Unternehmen, in jeder Region und Branche unterschiedlich intensiv geschieht, „kann man nicht alles per Gesetz regeln und Politik muss viel stärker auch traditionelle Aushandlungsprozesse nutzen, etwa in der Sozialpartnerschaft aus Arbeitgebern, Betriebsräten und Arbeitnehmern“, so Heil. Nur noch 47% der deutschen Arbeitnehmer seien in Tarifverträgen angestellt, weswegen dem Staat eine hohe entlastende Rolle zufalle, „das hat in Deutschland in den zehn Jahren seit der Finanzkrise gut funktioniert, wohingegen wir in Frankreich eine viel stärkere soziale Spaltung sehen“. Würde der Ruf nach dem Staat zu laut, dann käme der Gesetzgeber nicht mehr mit dem Regulieren hinterher; proaktive Rahmen seien das Mittel der Wahl.
Ein neues Berufsbild entsteht: abhängig Selbstständige
In einer sich immer stärker fragmentierenden Berufswelt aus vielfältigen Laufbahnen und Beschäftigungsarten strebt Heil gemeinsam mit anderen SPD-geführten Ministieren an, „die Selbständigkeit stärker in die Altersvorsorge einzubeziehen, und zwar nicht nur bei Anwälten, Architekten oder Handwerken“, sondern gerade auch bei neu selbständig Beschäftigten oder Crowdworkern sowie für in Plattformen tätige Menschen – darunter etwa Mitarbeiter von Liefer- und Kurierdiensten. Mit Humor und Respekt blickt Heil auf Österreich, „wo ein ganz neuer dritter Typus der Berufsart geschaffen wurde, der abhängig Selbstständige“, das sei eine Regelung mit Vorbildcharakter, die auch für Deutschland in Frage komme. Denn letztlich habe jeder Staat eine Schutzfunktion durch Versorgung mit einer besseren Altersabsicherung sowie betrieblichen und gesetzlichen Komponenten.
Libertär oder liberal?
Wo Müller aus vielen kununu-Bewertungen den Wunsch nach maximaler Arbeitsort- und Arbeitszeitfreiheit herausliest, interpretiert Heil die neue Welt der Arbeitnehmer politisch: man müsse libertär und liberal unterscheiden, denn die eine Welt fördere zwar Freiheiten und damit auch Regellosigkeiten, doch könne nicht jede agile Arbeitsform ohne Regeln auskommen. Es brauche freiheitliche und gleichzeitig humane Gestaltungswege. Ein Beispiel: in einem durch sein Ministerium untersuchten Plattform-Unternehmen der Essens-Lieferbranche habe Heil festgestellt, dass eine hohe Zahl sachgrundloser Befristungsverträge vorherrsche, es keinen Betriebsrat gäbe und aufgrund der digitalen Natur der Algorithmen auch kein klassischer Arbeitsort der Lieferangestellten feststünde – eine große Aufgabe für den Gesetzgeber. Dem empfiehlt Müller:
„Der Arbeitsort ist dort, wo die Algorithmen sind“.
Brechen hier die klassischen Kategorien aus Arbeits- und Sozialrecht zugunsten neuer Arbeitsformen und neuer Definitionen von physischem Arbeitsort auf?
Wenn Arbeitnehmer ihre Rollen neu definieren
Müller bietet aus ihrer Erfahrung eine weitere Sichtweise auf sich verändernde Rollen. Sie kenne aus vielen Vorstellungsgesprächen Grafiker, Developer und Projektmanager, die kununu sofort anstellen würde – jedoch entscheiden sich immer mehr junge Arbeitnehmer bewusst für eine freie und ungebundene Tätigkeit über Arbeitgebergrenzen hinweg. Diese Entwicklung „muss man gut sortieren“, sagt Heil,
„darum gibt es in meinem Ministerium nun Experimentierräume, die wie ein Labor in Echtzeit die Wirklichkeit verstehen“
und seit 2018 in einer ganzen Reihe von Branchen Berufsbilder testen, etwa in der Pflege oder in digitalen Umfeldern. Den rund 1200 Kollegen im Ministerium stellt Heil mit einer nicht-verpflichtenden neuen Präsenzkultur, neuen Betriebsvereinbarungen und dem Aufbrechen tradierter Hierarchien Freiheiten bereit, die es sonst nur in der Marktwirtschaft gäbe, „die öffentliche Verwaltung hat hier immensen Nachholbedarf“. Ein interner Think Tank als Ideenfabrik für die digitale Arbeitsgesellschaft arbeitet Studien, Gesetzesvorschläge und Impulse aus, die Heil künftig zur Gestaltung der neuen Arbeitswelt nutzen möchte.
„Mit einer Bewertung von 4,3 von 5 möglichen Punkte ist das Ministerium als Arbeitgeber sehr gut bewertet“,
erläutert Müller das aktuelle Profil von Heils Behörde auf kununu.
Digitalisierung + Gleichberechtigung = Erfolg?
Zwar fielen einige Tätigkeiten mit zunehmender Digitalisierung aus dem Markt, „die Entwicklung hilft Frauen tendenziell schon“, sagt Müller, denn es entstünden neue Rollen im Bereich Gesundheit, Soziales, Pflege, im IT-Sektor und Dienstleistungen, bei denen Frauen bestens qualifiziert seien. „Wir müssen hier aber zwischen Beruf und Tätigkeit unterscheiden“, ergänzt Heil, „richtig ist, dass Berufe wegfallen, die einschlägigen Studien unterscheiden aber nicht deutlich genug zwischen job und work – das sind im Englischen zwei völlig unterschiedliche Bewertungen“, denn ein wegfallender job bedeute nicht, dass auch kein Bedarf nach work mehr bestehe. Dennoch brauche es eine Vielzahl an Umschulungsmaßnahmen, Strategien zur Minderung des Fachkräftemangels und eine weitsichtige Politik.
„Arbeitskulturen können sich ändern“,
prognostiziert Heil und Müller ergänzt: „es entstehen neue Strukturen, selbstorganisierende Teams und projektartige Umfelder“, die viele Chancen für alle Arbeitnehmer böten, unabhängig vom Geschlecht.
Letztlich blicken Heil und Müller positiv in die Zukunft der Arbeit. Mehr Chancen und mehr Gerechtigkeit seien möglich, das Recht auf Brückenteilzeit, erweitertes Elterngeld, Bildungszuschüsse, geplante Maßnahme für das Recht zu Home Office und mobilem Arbeiten sowie flexible Gesetzesrahmen für mehr Arbeitnehmer-Teilhabe seien ein wichtiger Schritt bei der Gestaltung von New Work und Arbeit 4.0.