Nachgefragt! #WeStandWithUkraine: Wie geht es weiter?
Die Hilfsbereitschaft in Deutschland für aus der Ukraine Geflüchtete war und ist groß. Doch wie lange wird das Engagement der Menschen halten? Wo steht die zivilgesellschaftliche Hilfe und was muss jetzt passieren? Wir sprechen mit zwei Expert:innen aus der Zivilgesellschaft.
In Ausgabe #9 von „Nachgefragt“, unserem 30-Minuten-Talkformat am Morgen, sprach ich über die Hilfe für die aus der Ukraine geflüchtete Menschen. Ich hatte die Gelegenheit, mit Lukas Kunert und Stephan Peters darüber zu sprechen, wie man richtig hilft, über die Rolle des Digitalen und wie es jetzt weitergehen kann. Kunert ist Initiator von Unterkunft Ukraine, einer Initiative zur digitalen Vermittlung von privaten Wohnmöglichkeiten für Geflüchtete. Peters ist Trendforscher bei betterplace lab und beschäftigt sich bereits seit 2015 mit digitaler Hilfe für Geflüchtete.
Direkt drauf los oder effektiv: Wie hilft man richtig?
Als die ersten Flüchtlinge am Berliner Hauptbahnhof ankamen, rief auch Lukas Kunert Hilfswillige dazu auf, zum Bahnhof zu kommen, um Privatunterkünfte anzubieten. So wurde abstrakte Hilfsbereitschaft in konkrete Handlungen umgesetzt, ein Ziel, dem sich der Initiator von Unterkunft Ukraine bis heute verschrieben hat. Doch die Praxis geriet in Kritik, als bekannt wurde, dass sich auch Menschenhändler unter die Hilfsbereiten mischten. Ich fragte ihn also, ob er diesen Aufruf nochmal so machen würde.
Ja, denn die Alternative wäre, dass die Menschen vor Ort am Bahnhof übernachten hätten müssen. Das wäre ebenfalls ein unsicheres Setting für gerade geflüchtete Menschen gewesen, argumentierte Kunert. Stephan Peters stimmte dem zu: Grundsätzlich haben jede Art von „Helfenwollen“ und Ehrenamt positive Effekte. Es bringe Erfahrung von Selbstwirksamkeit und habe positive gesellschaftliche Auswirkungen.
Wer sich engagieren wolle, so Peters, kann sich das Projekt suchen, mit dem er oder sie glücklich wird. Auf betterplace.org stehen zum Beispiel mehr als 45.000 soziale Projekte zur Auswahl. Andererseits gibt es die Theorie des effektiven Altruismus, führt Peters aus. Demnach versuchen Menschen, ihre Ressourcen möglichst wirksam für Hilfe zu nutzen, anstatt ohne zu überlegen, einem beliebigen Engagement nachzugehen.
Wichtig sei, dass man sich an den Bedarfen von Menschen in Not orientiert. Dafür gibt es Stellen, bei denen man sich informieren kann. Peters nannte dabei die Spendenbrücke Ukraine als Beispiel. Geflüchtete brauchten derzeit beispielsweise vor allem Unterkünfte. Benötigt werden aber auch Windeln, Babynahrung, Koffer oder auch Übersetzungsleistungen, Kinderbetreuung und vieles mehr.
Schlüssel zur Lösung? Was das Digitale kann
Spannend war für mich zu erfahren, ob digitale Plattformen und Dienste der Schlüssel zur Lösung solcher Probleme seien. Beide Experten sprechen sich für eine Verzahnung aus. Denn „eine skalierbare Lösung rein im Analogen ist heute zwar schwer vorstellbar“, aber es würde immer um die Verschränkung beider Welten gehen. Wärme, Willkommenheißen – dazu brauche es eine analoge Präsenz. Matching und Koordination sind dabei besser im Digitalen aufgehoben. Und Softwares zur Simultanübersetzung beispielsweise helfen bereits in der analogen Begegnung. Digitales und Analoges gehörten zusammen, das machten die Experten deutlich. Kunert übersetzte das in ein einprägsames Bild:
„Den einen General-Schlüssel für diese Krise gibt es nicht. Wir brauchen einen großen Schlüsselbund. Das Digitale ist, was alle vorhandenen Schlüssel noch feiner, noch präziser, noch besser machen kann.“
Zwischen Expansion und Konsolidierung: Wo steht die Nothilfe?
Es gebe verschiedene Phasen der zivilgesellschaftlichen Nothilfe, führte Peters aus. In einer ersten Phase der Expansion, entstehen in kürzester Zeit eine Vielzahl oft unkoordinierter Hilfsangebote. Das sei notwendig, um schnell und agil auf die Notlage zu reagieren. In der zweiten Phase der Konsolidierunghören einige auf zu helfen, weil ihnen die Energie oder Ressourcen ausgehen. Gleichzeitig wächst die Kooperation innerhalb der Zivilgesellschaft, Unternehmen und den staatlichen Trägern. Kunert und Peters sind einer Meinung: Wir befinden uns gerade zwischen diesen beiden Phasen.
Während der Sektor der Grundbedürfnisse von Sicherheit, Wohnraum und Versorgung zum Beispiel in einer Konsolidierungsphase angekommen ist, befinden sich Fragen wie die Integration in den Arbeitsmarkt in einem sehr frühen Stadium. Kunert gibt zu denken, dass es jetzt einen öffentlichen Diskurs über die Zukunft der Hilfe bräuchte:
„Die Frage jetzt ist: Wie kommen wir als Gesellschaft zu einem gemeinsamen Zukunftsbild für den zweiten Akt? Welche Möglichkeiten entstehen dadurch, dass Menschen hier ankommen; was ist das für eine Chance?“
Um langfristige Lösungen zu finden, bräuchte es ein Beidseitigkeitsverhältnis, eine Situation, durch die beide Seiten profitierten. Nur so könne Stabilität geschaffen werden. So gebe es zum Beispiel Schulen, die nicht mehr genügend Schüler:innen haben, deshalb geschlossen werden müssten. Diese würden von mehr Schülern profitieren. Dadurch entstehen Synergien– und damit große Zufriedenheit und Hilfsbereitschaft.
Stephan Peters schließt die Diskussion mit einem Wunsch: Menschen sollten sich bewusst werden, dass solche Notsituationen zunehmend zu unserem Alltag gehören. Er nennt die Klimakrise aber auch Covid; wir müssten uns darauf vorbereiten, in einer Art Standby-Modus bereit zu sein, auf humanitäre Krisen zu reagieren. Gefährlich wären gesellschaftliche Ermüdungserscheinungen wie 2015 und 2016. Damals sei die Stimmung irgendwann gekippt und fremdenfeindliche Töne dominierten plötzlich die Debatte. Jetzt brauche es einen Übergang von der Nothilfe zuresilienten Strukturen dauerhafter Mitmenschlichkeit.
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