Interviewserie #BTW17: „Soziale Medien können weder Kandidaten noch ein Programm ersetzen“

Nicola Beer Generalsekretärin der FDP. Foto: Laurence Chaperon Berlin.09.06.2016
Veröffentlicht am 07.09.2017

Die heiße Phase des Wahlkampfs um den Bundestag hat begonnen. Die Wahlprogramme sind geschrieben, immer mehr Wahlplakate bekleiden Straßenlampen und Bäume. Offline oder Online nutzen Politiker und Kandidaten die Möglichkeit, ihre Botschaften zu verbreiten. Wie funktioniert der Online-Wahlkampf 2017? Wie stehen die Parteien zu Regulierung von Algorithmen oder Datensparsamkeit? UdL Digital hat die Wahlkampfchefs – die Generalsekretäre und Bundesgeschäftsführer– der aussichtsreichsten Parteien zu den Themen Internet-Wahlkampf, Demokratie im Netz und die netzpolitischen Forderungen der Parteien befragt.

Nicola Beer Generalsekretärin der FDP.
Foto: Laurence Chaperon
Berlin.09.06.2016

Mit den Erfolgen der FDP in den vergangenen Landtagswahlen ist die Partei sicher in den Wahlkampf um den Bundestag eingestiegen. Auch ein frischer digitaler Wind soll den Freien Demokraten zum Wiedereinzug in die Bundespolitik verhelfen. Mitverantwortliche ist Nicola Beer, denn seit Ende 2013 ist sie Generalsekretärin der FDP. 1999 wurde Beer das erste Mal in den Hessischen Landtag gewählt, wo die Rechtsanwältin unter anderem Staatssekretärin im Justizministerium sowie Kultusministerin war. Derzeit ist sie im Ausschuss für Wissenschaft und Kunst sowie im Europaausschuss. Ihre vorrangigen Themen in der Partei sind Bildung, Forschung, Technologie, Medien, Internet, digitale Agenda und Kultur. Nicola Beer setzt sich im Interview mit UdL Digital für ein neues Datenrecht ein, das Schutz der Privatsphäre trotz Datenreichtum und Verfügungsgewalt über Daten bei den Bürgern garantiert. Die FDP möchte außerdem den Breitbandausbau mit dem Verkauf der Bundesanteile an der Deutschen Post und der Telekom AG sowie über private Investoren finanzieren.

Die Digitalisierung verschiedener Bereiche wie Wirtschaft, Mobilität und Verwaltung schreitet in Deutschlands Regionen sehr unterschiedlich voran. Welche Maßnahmen will Ihre Partei auf Bundesebene ergreifen, um allen Menschen Teilhabe an der digitalen Gesellschaft zu ermöglichen?

Geographisch darf es keine Kluft zwischen Stadt und Land geben. Deswegen wollen wir ein flächendeckendes Gigabitnetz in Deutschland, um alle Regionen die Chance zu geben, an der Digitalisierung teilzuhaben. Digitale Teilhabe setzt zunehmend eine Wissensgesellschaft voraus. In einer Welt der Veränderung gibt es keine Ressource, die wertvoller wäre als Bildung. Daher müssen wir unsere Bildungspolitik neu justieren. Von Kindesbeinen bis ins hohe Alter. Wir Freie Demokraten wollen bei den Investitionen in Bildung zukünftig zu den führenden fünf Ländern der OECD zählen und damit auch Bildungserfolg auf Weltniveau erreichen. Dazu wollen wir in den nächsten fünf Jahren pro Schüler zusätzlich 1.000 Euro für Technik und Modernisierung direkt vor Ort in Schulen investieren, die Lehrkräfte mittels einer Fortbildungsoffensive für die digitale Bildung fit machen und die Lehrpläne modernisieren. Gleichzeitig gilt es, gemeinsam mit der Wirtschaft die Weiterbildung der Arbeitnehmer zu verstärken. Lebenslanges Lernen muss Realität werden. Ferner muss auch die Politik „digital denken“: Ein neues Datenrecht, E-Government-Lösungen zum Bürokratieabbau und Verbesserungen bei der Cybersecurity sind ebenso notwendig wie eine konsistente Digitalisierungsstrategie über alle Politikbereiche. Hierzu wollen wir in einem Digitalisierungs- und Innovationsministerium alle Kompetenzen bündeln, um von E-Mobility bis E-Health schneller in Sachen Digitalisierung voranzukommen.

Welche Maßnahmen wollen Sie ergreifen, um die Investitionen in Gigabitnetze in Deutschland voranzubringen? Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht Unternehmen und welche der Staat?

Für uns Freie Demokraten ist der zügige Ausbau der digitalen Infrastruktur eine der aktuell wichtigsten Aufgaben von Staat und Gesellschaft. Denn die Zukunft ist digital und schnelles Internet ist zentrale Voraussetzung, damit Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen die Chancen des digitalen Wandels für sich nutzen können. Wir wollen überall in Deutschland hochleistungsfähiges Internet durch flächendeckende Gigabit-Infrastrukturen sowohl im Festnetz, als auch beim Mobilfunk. Glasfaser überträgt Daten deutlich schneller als die weit verbreiteten Kupferkabel. Selbst wenn Kupferkabel mittels des sogenannten Vectoring nachgerüstet werden, erreichen sie nicht annähernd die Übertragungsgeschwindigkeit von Glasfaser. Zur Finanzierung wollen wir die Erlöse aus dem Verkauf der Bundesbeteiligungen wie der Deutschen Post und der Telekom AG nutzen, die um privates Kapital von Investoren ergänzt werden sollen. Wir treten dafür ein, dass der Ausbau in Regions-Clustern ausgeschrieben wird, sodass dieser auch im ländlichen Raum attraktiv ist. Alle Provider müssen Kapazitäten auf neuen Glasfaserleitungen mieten können. Dies ermöglicht echten Wettbewerb bis an die Grundstücke bei gleichzeitiger Refinanzierung über die kommenden Jahrzehnte.

Manche Menschen haben Angst, durch digitale Innovationen ihre Arbeit zu verlieren. Welche Perspektiven bietet Ihre Partei diesen Menschen?

Ja, die Digitalisierung wird unsere Arbeitswelt noch viel stärker verändern als das, was wir bereits an Veränderungen sehen. Dabei werden Arbeitsplätze wegfallen, aber auch viele neue entstehen. Wir dürfen vor dieser Veränderung nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern müssen den Strukturwandel in der Arbeitswelt aktiv gestalten, sonst werden wir von den Entwicklungen überrollt. Dabei ist es nicht Aufgabe der Politik, alte Geschäftsmodelle zu schützen oder neue zu subventionieren: Doch wir müssen einen neuen fairen Rahmen setzen. Dazu braucht es einen Mentalitätswandel: mehr Offenheit, mehr Flexibilität, mehr Gründergeist. Grundlage dafür, jedem die Chance zu geben, von diesen Veränderungen zu profitieren, ist für uns Bildung. Unser Anspruch muss sein, jeden so rechtzeitig zu qualifizieren, dass er nicht nur neue Arbeitsplätze ausfüllen, sondern, wenn er möchte, mit seinen Ideen und Talenten auch selbst neue Arbeitsplätze schaffen kann. Die Wirtschaft muss die Weiterbildung der Arbeitnehmer verstärken, muss ihre Mitarbeiter für die Herausforderungen fit machen und lebenslanges Lernen muss Realität werden. Wir müssen zudem als Gesellschaft die Kraft haben, auf überkommene Reglementierung zu verzichten, Bürokratie abzubauen, Arbeitszeit zu flexibilisieren, Gründungen zu erleichtern sowie durch Forschung und Entwicklung aus neuen Ideen Innovationen zu machen.

Wie möchte Ihre Partei den Schutz der Privatsphäre im Netz sicherstellen? Plädieren Sie für Datensparsamkeit oder Datenreichtum?

Datenschutz, Datentransparenz und Datensouveränität sind die Freiheitsgarantien des 21. Jahrhunderts. Doch in einer Welt, wo Daten zur Währung werden und oftmals Grundlage neuer Geschäftsmodelle sind, kann der althergebrachte Grundsatz der Datensparsamkeit nicht mehr alleiniger Maßstab sein. Wir brauchen ein neues Datenrecht, um trotz Datenreichtum Privatsphäre zu schützen. Für uns Freie Demokraten zeigen hier die anlasslose Vorratsdatenspeicherung und der Staatstrojaner deutlich, dass die Große Koalition inzwischen jedes Maß verloren hat. Dabei ist es Aufgabe des Staates, die Privatsphäre zu schützen, statt seine Bürgerinnen und Bürger zu bespitzeln und anlasslos Daten zu sammeln. Für ein selbstbestimmtes Leben müssen sich die Menschen darauf verlassen können, dass Privates auch privat bleibt. Wer seinen intimsten Lebensbereich vor der Einsicht durch Unternehmen oder den Staat schützen will, soll nicht dazu gezwungen, ausgetrickst oder trotzdem bespitzelt werden. Dort, wo Daten entstehen, gespeichert und genutzt werden, sollen die Bürger die Verfügungsgewalt darüber haben, wer, wann und zu welchem Zweck ihre personenbezogenen Daten nutzen darf. Darüber hinaus müssen wir neue, faire Nutzungsrechte für nicht-personenbezogene Daten, gleich ob pseudonymisierte, anonymisierte personenbezogene Daten oder durch Maschinen erzeugte, erfasste und gespeicherte Prozessdaten schaffen. Denn datenbezogene Geschäftsmodelle und Datensouveränität schließen sich nicht aus.

Viele stellen sich die Frage, wie die Politik mit Algorithmen umgehen soll. Kann der Staat deren Offenlegung verlangen und wie sollen sie reguliert werden?

Wir gehen davon aus, dass es bei der Frage nach dem Umgang der Politik mit Algorithmen darum geht, fairen Wettbewerb zwischen den Marktteilnehmern und Transparenz gegenüber den Verbrauchern sicherzustellen. Für diese Ziele stehen auch die Freien Demokraten ein. Eine Offenlegung von Algorithmen käme der Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen gleich. Eine Offenlegung der Geschäftsgeheimnisse ist derzeit bei Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung im Wettbewerbsrecht vorgesehen. Einer– auch nur – teilweisen Offenlegungspflicht in anderen Situationen stehen wir kritisch gegenüber und halten einen derartig drastischen Eingriff auch nicht für notwendig, weil man dasselbe Ziel auf anderem Wege erreichen kann: Wenn es darum gehen soll, dem Verbraucher und Nutzer Souveränität zu verleihen, dann können wir uns ein Modell der Qualitativen Algorithmus-Transparenz vorstellen. Ähnlich wie ein Beipackzettel eines Arzneimittels soll hierbei nicht das Geschäftsgeheimnis offengelegt werden, sondern transparent gemacht werden, welche Auswirkung der Algorithmus auf die jeweilige Anwendung hat. Der interessierte Nutzer soll – ähnlich wie bei einem Medikament – nachschauen können, wie der Algorithmus wirkt.

Zuletzt haben wir mehrere Versuche gesehen, die großen Internet-Unternehmen zu mehr Verantwortung zu veranlassen – zum Beispiel mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Wo sehen Sie Handlungsbedarf in der nächsten Legislaturperiode?

Wir haben mit dem Wettbewerbs- und Kartellrecht ein mächtiges Instrument in der Hand, um Missbrauch großer Unternehmer zu überprüfen und zu ahnden – wenn die von der Politik unabhängigen Wettbewerbs- und Kartellbehörden ihre Möglichkeiten ausschöpfen, brauchen wir keine neuen Gesetze. Beim NetzDG handelt es sich in erster Linie um ein Problem der Rechtsdurchsetzung. Wir Freie Demokraten wollen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft strafbewehrte Postings in sozialen Netzwerken konsequenter verfolgen. Hierzu müssen diese Behörden finanziell und personell deutlich besser ausgestattet werden. Den Betreibern der sozialen Netzwerke aber darf die Rechtsdurchsetzung nicht übertragen werden. Sie sind keine Zensurbehörde. Ihre Aufgabe muss es sein, zweifelhafte Kommentare zu melden und so eine Entscheidung der im Rechtsstaat dazu berufenen Stellen herbeiführen. Das NetzDG wollen wir Freie Demokraten daher schnellstens überarbeiten, da es einseitig Anreize zur Löschung setzt. Unabhängig davon müssen aber die Betreiber ihrer Verantwortung nachkommen und Strategien zum Umgang mit Hass-Postings entwickeln.

Die Vorratsdatenspeicherung ist nun zum zweiten Mal aus verfassungsrechtlichen Gründen gescheitert. Ist Ihre Partei für ein drittes deutsches Gesetz dazu in der neuen Legislaturperiode?

Nein, wir sind entschieden gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung. Die FDP hat gegen diese Art der Vorratsdatenspeicherung geklagt und zwei Mal Recht bekommen. Wir Freie Demokraten wollen nicht, dass Telekommunikationsunternehmen die Verkehrsdaten aller Menschen – auch gegen deren Willen – anlasslos speichern. Gesetze, die sie dazu zwingen, lehnen wir deshalb entschieden ab. Freie Kommunikation zwischen Menschen verträgt sich nach unserer Überzeugung nicht mit dieser anlasslosen, flächendeckenden Speicherung. Für eine effektive Strafverfolgung reicht es aus, wenn Verkehrsdaten, die bei den Telekommunikationsunternehmen aus anderen Gründen gespeichert werden, im konkreten Verdachtsfall genutzt werden können. Nimmt eine Strafverfolgungsbehörde bei entsprechendem Tatverdacht an, diese Daten zur Aufklärung von Straftaten zu benötigen, soll sie deshalb anordnen können, dass diese vorübergehend „eingefroren“ werden. Ob den Ermittlern die Daten tatsächlich zur Verfügung gestellt („aufgetaut“) werden, entscheidet dann ein unabhängiges Gericht, insbesondere unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

Welche Rolle spielt der digitale Wahlkampf im Rennen um den Bundestag? Was sind die wichtigsten Tools Ihrer Partei, um Wähler zu erreichen?

Die Freien Demokraten nutzen Online-Auftritt, Newsletter, Facebook, Twitter, Instagram und YouTube. Im Social-Media-Bereich liegt der Fokus dabei klar auf Facebook. Eine Unterscheidung zwischen digitalem und analogem Wahlkampf halten wir Freie Demokraten für verfehlt, denn die Lebenswirklichkeit der Menschen ereignet sich ja auch in beiden Bereichen ohne künstliche Trennung. Digitale Kanäle sind Teil des Medienmix und der Medienwirklichkeit. Entsprechend messen die Freien Demokraten dem Online-Wahlkampf eine hohe Bedeutung zu, auch in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Klar ist allerdings: Soziale Medien können weder Kandidaten noch ein Programm ersetzen.

Auf den Punkt gebracht: Warum sollten die digitalpolitisch Interessierten sich bei der Bundestagswahl für Ihre Partei entscheiden?

Wir befinden uns in einem radikalen Umbruch. Digitalisierung und politische Umwälzungen verändern alles. Nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt steht am Beginn einer neuen Zeit. Wir Freie Demokraten glauben, dass wir für diese neue Zeit auch ein neues Denken brauchen. Ein Denken, das nach vorne gerichtet ist und dass die Lösungen nicht in der Vergangenheit sucht, wie das mancher unserer Wettbewerber versucht. Die FDP versteht sich als Anwalt der neuen Möglichkeiten der Digitalisierung. Wir richten unseren Blick vor allem auf die Potenziale für mehr Wohlstand sowie bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für jeden in unserem Land.

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