Interview mit Verena Pausder: „Das Curriculum radikal ausmisten“

Pressefoto Verena Pausder: Kim-Keibel
Pressefoto Verena Pausder: Kim-Keibel
Veröffentlicht am 25.02.2021

Pressefoto Verena Pausder: Kim-Keibel
Die Corona-Pandemie verlangte von Lehrer:innen und Schüler:innen in kürzester Zeit eine Umstellung auf Fernunterricht und digitale Lehrmethoden. Manches hat gut geklappt, bei einigen Dingen, wie der Ausstattung, ruckelt es bis heute. In den vergangenen zwei Wochen kamen dazu an dieser Stelle Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, sowie Tobias Fritz vom Landesschülerrat in Bayern zu Wort. Für den dritten Teil unserer Serie zur digitalen Bildung haben wir mit der Autorin und Gründerin Verena Pausder über die Erfahrungen des vergangenen Jahres und ihre Ideen für den digitalen Unterricht und die digitale Schule von morgen gesprochen. Sie engagiert sich mit dem von ihr 2017 gegründeten Verein Digitale Bildung für Alle für ein zukunftsgewandtes Schulsystem und die Vermittlung digitaler Kompetenzen.

Die Corona-Pandemie erzwang im vergangenen Jahr und jetzt erneut eine Umstellung auf Fernunterricht und digitale Ausweichlösungen. Was hat gut funktioniert und wo hat es gehakt?

Die Corona-Krise ist für die Schulen in Deutschland Fluch und Segen zugleich. Gerade erleben wir den permanenten Ausnahmezustand, Lehrerinnen und Lehrer und Eltern sind mit dem Distanzunterricht an der Belastungsgrenze, Schulplattformen brechen zusammen, bei den Tools herrscht Chaos. Wir waren schlicht nicht vorbereitet. Ich habe den größten Respekt vor allen, die den Unterricht trotz dieser Umstände am Laufen halten. Gleichzeitig hat die Krise Digitalisierungsprozesse beschleunigt, die sonst Jahre gedauert hätten und überfällig waren. Nach 2020 muss ich nicht mehr dafür kämpfen, dass digitale Bildung zur Priorität wird – weil alle die Notwendigkeit am eigenen Leib erfahren haben. Der Spirit ist „wir machen jetzt“ und nicht mehr „man müsste mal“. So Erfahrungen wie der #wirfuerschule-Hackathon im Juni 2020, bei dem über 6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeinsam an Lösungen für die Schule von morgen gearbeitet haben, machen mir Mut. 

Was brauchen wir für einen funktionierenden Schulalltag und einen guten Fernunterricht in der Pandemie?

Viele Schulen haben erst jetzt im zweiten Lockdown begonnen auch richtigen virtuellen Unterricht zu organisieren. Damit der digital reibungslos läuft und kreativ gestaltet werden kann, brauchen wir Positivlisten, auf denen ganz vereinfacht steht, welches Programm oder welche Software Lehrerinnen und Lehrer für welchen Zweck nutzen dürfen. Zweitens, müssen wir Lehrerinnen und Lehrern passgenaue Module für die Fortbildung bereitstellen. Plattformen wie Fobizz machen möglich, dass Lehrerinnen und Lehrer genau die Fähigkeiten lernen können, die gerade am dringendsten gebraucht werden, ohne dass sie auf eine komplette Reformierung der Lehreraus- und fortbildung warten müssen. Als drittes Thema höre ich von vielen Lehrerinnen und Lehrern die Leistungsbewertung. Prüfungsformate funktionieren online nicht wie im Klassenraum. Gerade im Homeschooling erhalten Schülerinnen und Schüler ganz unterschiedliche Unterstützung von ihren Eltern. Deshalb müssen wir flexibel sein und neue und kreative Prüfungsformate zulassen. Ein Beispiel: Statt einer schriftlichen Gedichtanalyse kann auch ein Handy-Video mit Gedichtvortrag zur Bewertung zugelassen werden, bei dem auch die kreative Darbietung zählt.

Blicken wir auf die Zeit nach der Pandemie: Was macht eine gute digitale Schule und guten digitalen Unterricht Ihrer Ansicht nach aus – was konkret brauchen Schulen, Lehrende und Lernende?

Wir müssen vor allem verstehen, dass guter digitaler Unterricht nicht heißt: Wir machen eigentlich das Gleiche wie vorher, nur jetzt mit Tablets. Guter digitaler Unterricht verbindet analoge und digitale Bildung, schult Medienkompetenz, ermöglicht individuelle Förderung und fördert digitale Kreativität. Ich wünsche mir, dass wir uns trauen, das Curriculum radikal auszumisten, um Platz zu schaffen für konkrete Fähigkeiten wie Robotik, Programmiersprachen, Grafikdesign und Co. Eine weitere Idee ist der „Frei-Day“ – an einem Tag die Woche arbeiten die Kinder projekt-basiert, eigenständig und in Kooperation mit lokalen Initiativen. Das gibt auch Kontext, was die Schule mit der „Welt da draußen“ zu tun hat.

Welche Rolle sollte die Digitalisierung zukünftig inhaltlich in der Schulbildung einnehmen?

65 Prozent aller heutigen Grundschulkinder werden später in Jobs arbeiten, die wir heute noch nicht kennen. Um ihnen eine Chance am Arbeitsmarkt zu geben, muss Schulbildung flexibel sein. Natürlich gehören digitale Fähigkeiten oben auf unsere Bildungsagenda. Im Kern geht es aber darum, dass wir in Schulen immer das lehren, was Kinder für die Teilhabe an der Gesellschaft brauchen. Das können heute Programmier-Skills sein, und morgen sind es vielleicht Konfliktmoderation oder die Fähigkeit, Quellen zu validieren und Fake News von echten Nachrichten zu unterscheiden. Schule muss mit der Zeit gehen und wir können nicht alle paar Jahre das Curriculum ändern. Vielmehr sollten wir Platz für fächerübergreifenden und projektbasierten Unterricht schaffen, in dem die Lehrkräfte Kompetenzen schulen statt nur Inhalte zu vermitteln.

Dieses Jahr sind Bundestagswahlen, was wünschen Sie sich für die nächste Legislaturperiode?

Im nächsten Koalitionsvertrag wünsche ich mir ein Digitalministerium mit klarer Kompetenz, Zuständigkeit und Budget. Wir haben bisher Digitalisierung dezentral über alle Ministerien organisiert und müssen uns eingestehen: Das geht viel zu langsam. Deshalb braucht es jetzt ein Haus, das den Hut aufhat, das Wissen bündelt und Verantwortung übernimmt. Außerdem brauchen wir mehr Experimentierfelder: Warum identifizieren wir nicht Regionen in Deutschland, die Startup-Hubs werden, an denen erleichterte Genehmigungsverfahren gelten, kurzum: Bürokratie schneller geht? Neben langen Wunschlisten an die Politik, habe ich vor allem eine Vision: Dass wir uns alle mehr in politische Diskussionen einbringen. Man muss nicht im Bundestag sitzen, um zu gestalten: Wir können auch mit unseren Ideen, Debattenbeiträgen, Petitionen und Initiativen ein Zukunftskabinett sein und helfen, unser Land und dessen Digitalisierung voranzubringen!

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