Interview mit Björn Böhning: Eine digitalsoziale Agenda für die Bundesregierung
In vielen Lebensbereichen sind die Auswirkungen der Digitalisierung nur schwer abzusehen. Wie wir in Zukunft arbeiten werden ist eine Frage, die derzeit noch eine gehörige Portion Fantasie erfordert. Um Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu gestalten, hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) eine Denkfabrik für die „digitale Arbeitswelt“ ins Leben gerufen. Die Leitung des „Labs“, in dem Wissenschaftler, Arbeitgeber, Freelancer und Trend-Scouts zusammenkommen sollen, übernimmt Staatssekretär Björn Böhning (SPD), der im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) für das Thema Digitale Arbeit zuständig ist. Das Thema Digitalisierung begleitet Böhning schon lange: Lange war er netzpolitischer Sprecher der Bundes-SPD und 2011 schrieb er sogar ein Buch über das Internet und wie es unser Leben verändert. Darüber, wie die Digitalisierung unsere Arbeitswelt verändern wird, welche politischen Schritte für eine digitale Transformation zum Wohle aller notwendig sind und welchen Beitrag die BMAS-Denkfabrik dahingehend leisten kann, hat Björn Böhning im Interview mit UdL Digital gesprochen.
Herr Böhning, Sie haben 2011 ein Buch mit dem Titel „Freiheit oder Anarchie? Wie das Internet unser Leben verändert“ geschrieben. Im Hinblick auf „Digitale Arbeit“, Ihr Themengebiet als neuer Staatssekretär im BMAS, wie hat sich die Arbeitswelt ihrer Meinung nach in den letzten Jahren durch das Internet verändert?
Nun damals sprachen wir von Anarchie, weil wir zwar Trends meinten erkannt zu haben, aber die Richtung noch nicht ganz klar war. Die technologische Entwicklung hat sich deutlich beschleunigt und auf nahezu alle Branchen ausgeweitet. Dazu kommt eine qualitative Verschiebung, die verständlicher wird, wenn wir über die Auswirkungen cyber-physikalischer Systeme zu sprechen, d.h. über das Zusammenspiel von Mensch und Maschine. Es geht ja nicht mehr nur um die Vernetzung von Menschen über das Internet oder von Maschinen, die in hochautomatisierten Prozessen im „Internet der Dinge“ miteinander interagieren. Vielmehr entstehen die zentralen Herausforderungen der Arbeitswelt vor allem durch die zunehmende und enge Vernetzung von Menschen mit Maschinen, die immer leistungsfähiger, geschickter und in Zukunft auch intelligenter werden.
Vor unseren Augen durchläuft die Arbeitswelt einen tiefgreifenden Transformationsprozess und ich werbe sehr dafür, dabei nicht nur fasziniert auf die Technologien zu starren, sondern wahrzunehmen und auszusprechen, was das für die Menschen bedeutet, die in dieser Welt arbeiten. Arbeit wird inhaltlich immer anspruchsvoller und voraussetzungsvoller: Je mehr Routinetätigkeiten von Maschinen übernommen werden, desto mehr wird sich menschliche Arbeit auf die Erledigung komplexer Vorgänge konzentrieren. Die digitalen Assistenzsysteme bringen für Viele deutliche Entlastungen, aber in manchen Branchen und Berufen sorgen sie auch für wachsende Anforderungen und in manchen können sie menschliche Arbeit auch komplett ersetzen.
Roboter, Automatisierung, Vernetzung und Big Data spielen eine immer größere Rolle in der Wirtschaft.Während die einen Angst haben, dass durch technologische Entwicklungen Arbeit verloren geht, sehen andere sie als Chance für Innovationen und Produktivitätsgewinne, die neue Arbeitsplätze schaffen. Wo ordnen Sie sich auf dieser Skala ein?
Wir müssen uns beiden Themen stellen. Klar bringt die digitale Transformation wie jeder Strukturwandel Chancen und Risiken. Einseitige Sichtweisen in die eine oder andere Richtung sind aber wenig hilfreich, weil sie die dringend notwendige differenzierte Diskussion über konkrete und realistische Gestaltungsmöglichkeiten behindern. Unser Ziel muss doch sein, die digitale Transformation so zu gestalten, dass sie am Ende allen nutzt. Aus meiner Sicht brauchen wir dafür erstens ein breites Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebot. Wir müssen intensiv in die Beschäftigten investieren und zwar in jeder Phase ihres Berufslebens. In Zeiten händeringender Nachfrage nach Fachkräften ist eine gute Arbeitspolitik die beste Wirtschaftspolitik. Die Qualifizierungsoffensive, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Ende Mai vorgestellt hat, zielt genau darauf ab. Der im Koalitionsvertrag verankerte Rechtsanspruch auf eine lebensbegleitende Weiterbildungsberatung ist ein erster Schritt und wichtig für die Sicherheit der Beschäftigten. Wir werden das schnell umsetzen. Zweitens müssen wir Risiken absichern, die neu entstehen. Zum Beispiel werden wir flexible Arbeitsformen besser absichern, indem wir den Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung auf mehr Menschen ausweiten und den Zugang zum Arbeitslosengeld erleichtern. Drittens, und das erscheint mir entscheidend für die Akzeptanz des Wandels insgesamt, müssen wir dafür sorgen, dass sich die Anstrengungen für alle lohnen und die Wohlstandsgewinne, die sich aus der Digitalisierung ergeben, gerecht verteilt werden.
Neue Technologien können Arbeit erleichtern, aber auch zu neuen Belastungen für den Arbeitnehmer führen. Was gehört Ihrer Meinung nach zu einem modernen Arbeitsschutz 4.0 und wie kann der Gesetzgeber dabei noch nachhelfen?
Gefahrstoffe, Licht, Lärm, Staub, Hitze, Vibration…all das wird es weiterhingeben, auch wenn wir die berechtigte Hoffnung haben, dass solche Belastungen durch neue Technologien spürbar reduziert werden. Zugleich beobachten wir zunehmende psychische Belastungen durch Stress, Arbeitsverdichtung, Multitasking und höhere emotionale und kognitive Anforderungen. Die Arbeitswelt ist eine in hohem Maße von Menschen gemachte Welt, die bewusst gestaltet und gesteuert werden kann und auch muss. Es gibt viele Unternehmen, die verstanden haben, dass sie bei der Einführung neuer Technologien Strategien brauchen, die Führungskräfte und Beschäftigte von Anfang an systematisch einbeziehen, um produktive, sichere und gesunde Betriebsabläufe zu schaffen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind nach unserem derzeitigen Wissenstand alles in allem ausreichend. Entscheidend ist die Umsetzung und Zusammenarbeit vor Ort: Die Betriebspartner müssen rechtzeitig alle betrieblichen Akteure einbeziehen, um Lösungen zu finden, die den konkreten Gegebenheiten in den jeweiligen Betrieben gerecht werden. Die Gefährdungsbeurteilung ist dafür übrigens ein sehr gutes Instrument.
Die digitale Transformation wird die Arbeitsanforderungen in vielen Berufen verändern. Was muss sich heute in puncto Qualifizierung und Weiterbildung ändern, damit den neuen Anforderungen nachgekommen werden kann?
Die OECD schätzt, dass in über einem Drittel aller Berufe zwischen 50 und 70 Prozent der Tätigkeiten neu ausgerichtet werden. Und das in einem Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren. Das bedeutet eine umfassende Verschiebung von Kompetenzbedarfen. Dinge, die Maschinen nicht gut können, werden in Zukunft stärker gefragt sein: soziale und kreative Intelligenz, Empathie, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten. Die technischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen bringen für viele Beschäftigten größere Handlungsspielräume, aber ebenso mehr Eigenverantwortung und damit die Notwendigkeit ggf. auch Grenzen ziehen zu können. Das muss durch ein aktives und rechtlich gesichertes „Empowerment“ unterstützt werden.
Wenn es uns gelingt, diesen Wandel in den Unternehmen zu unterstützen können wir als Volkswirtschaft neue Wertschöpfung schaffen. Das ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Im Koalitionsvertrag haben wir uns deswegen darauf geeinigt, die Weiterbildungsförderung an die neue Zeit anzupassen und auszubauen. Dafür werden wir die staatlichen und tariflichen Instrumente der Weiterbildungsförderung noch besser miteinander verzahnen müssen. Mit all diesen Maßnahmen werden wir den Strukturwandel der Arbeit aktiv gestalten, die Chancen der neuen Zeit nutzen und gleichzeitig Schutz bieten für die Unsicherheiten, die der Wandel mit sich bringt.
Seit ein paar Jahren floriert das Geschäft mit Crowdworking-Plattformen wie Upwork oder Amazon Mechanical Turk. Sie ermöglichen hohe Selbstbestimmtheit für Beschäftigte, bringen aber auch eine hohe wirtschaftliche Einkommens- und Beschäftigungsunsicherheit mit sich. Wie schätzen Sie die Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Plattformwirtschaft ein?
Ob diese Geschäftsmodelle tatsächlich eine so hohe Selbstbestimmung mit sich bringen, weiß ich nicht. Ich würde jedenfalls ein Fragezeichen dahinter setzen. Denn es gibt Medienberichte und auch Hinweise aus der Forschung, dass zumindest manche der Crowd- und On demand-Arbeiter dazu neigen, sich permanent für neue Aufträge bereit zu halten. Wenn „die Arbeit“ per Smartphone ständig dabei ist, darf man ruhig von „Entgrenzung“ reden: Die sozialen Beziehungen leiden und der psychische Druck ist immens. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es für Kinder sein muss, wenn Mama oder Papa ständig auf Handy starren oder lauschen, ob vielleicht ein dringend gebrauchter neuer Auftrag eingestellt wird. Das Problem bei diesen Erwerbsformen ist ja, dass der Auftrag nicht zu einem kommt, sondern man ihn sich „holen“ muss, und das schnell, denn es gibt möglicherweise X Konkurrenten um die angenehmeren oder etwas besser vergüteten Jobs. Gerade bei Microtasks, die über Crowdworking-Plattformen vermittelt werden, müssen sehr viele Aufträge angenommen werden, damit es sich lohnt. Natürlich gibt es auch Vergabeplattformen, auf denen längerfristige und anspruchsvollere Tasks – mit zumindest teilweise höherer Vergütung – vergeben werden. Ob die Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitern in diesem höher qualifizierten und -vergüteten Bereich besser sind, wissen wir aber noch nicht.
Für die Gestaltung der Arbeitswelt der Zukunft möchte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil eine Denkfabrik ins Leben rufen, dessen Führung Sie übernommen haben. Welche Impulse soll die Denkfabrik setzen? Inwieweit soll die Denkfabrik inhaltlich an den Dialog „Arbeiten 4.0“, der vergangene Legislaturperiode im BMAS geführt wurde, anschließen?
Die Denkfabrik ist eine wichtige Konsequenz aus dem Arbeitsprogramm des Ministeriums in den vergangenen Jahren, in dem wir untersucht haben, wie die Arbeit von morgen aussehen könnte und was dafür in den Blick genommen werden muss, damit die Zukunft eine Zeit mit guter Arbeit wird. In Ergänzung zu Industrie 4.0 haben wir diesen Denkprozess Arbeiten 4.0 genannt, um auf die menschliche Dimension der Entwicklung hinzuweisen. Wir haben dabei unter anderem gelernt, wie wichtig es ist, die technologischen und sozioökonomischen Entwicklungen genau zu verstehen, zu analysieren und den Diskurs darüber mit zu gestalten. Wir werden die strategische Vorausschau für das Ministerium verstetigen, stärker aus dem internationalen Politikvergleich lernen und einen intensiveren Austausch mit Akteuren organisieren, die neue und andere Perspektiven einbringen können, beispielsweise durch innovative Gesprächs- und Diskussionsformate, aber auch durch ein internationales Fellowship-Programm. Und schließlich hat das Ganze auch einen kulturellen Aspekt. Ich bin überzeugt: In Zeiten, in denen Unternehmen neue Strukturen und agile Arbeitszusammenhänge erproben, müssen sich auch Ministerien bewegen und neue Wege erkunden.
Zum Abschluss: wenn Sie 2021 zurückschauen auf diese Legislaturperiode – was wollen Sie auf jeden Fall erreicht haben?
Das „big picture“, zu dem ich beitragen möchte, ist, die technologische und ökonomische Entwicklung sehr viel stärker auf das Gemeinwohl auszurichten als das derzeit der Fall ist. Das ist aus meiner Sicht die ureigenste Aufgabe, um nicht zu sagen: die verdammte Pflicht der Politik. Die Bundesregierung darf nicht allein eine technologische Agenda haben, sie braucht auch eine digitalsoziale. Ob und wie weit das gelingt, zeigt sich dann an konkreten Dingen: Etwa daran, ob man sich beim Lieferdienst eine Pizza bestellen kann, ohne ein schlechtes Gewissen gegenüber dem liefernden Personal haben zu müssen, weil dieses unter fragwürdigen Bedingungen arbeitet; oder daran, ob diejenigen, die den „lernenden Maschinen“ ihr Know-how vermitteln, am Ende nicht auf der Straße sitzen, oder auch daran, ob man beim Betreten des Arbeitsministeriums spürt: Die haben verstanden.