Geschlechterparität: Viel zu tun in Wissenschaft und Digitalwirtschaft
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Frauen sind in Digital- und MINT-Berufen noch immer unterrepräsentiert. In den Bereichen Künstliche Intelligenz und Cybersicherheit ist der Frauenanteil besonders gering. Wie gewinnen wir mehr Mädchen und Frauen für Ausbildungen und Berufe in Wissenschaft, Technik und Digitalwirtschaft?
In den vergangenen Wochen wurde die besondere Rolle der Frauen in der Corona-Pandemie deutlich. Weltweit sind 70 Prozent aller Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen weiblich, außerdem arbeiten auch überproportional viele Frauen im Lebensmitteleinzelhandel. Doch in MINT-Bereichen (Mathematik, Ingenieurwesen, Naturwissenschaften, Technik) und dem digitalen Sektor (z. B. digitale Technologien, IKT, Künstliche Intelligenz, Cybersicherheit) fehlen die weiblichen Kolleginnen. Frühere Reforminitiativen, die darauf abzielten, den MINT-Bereich für Frauen attraktiver zu gestalten, haben ihr Ziel verfehlt. Denn die Unterrepräsentation der Frauen reicht vom Bildungsbereich bis in die Arbeitswelt. Das zeigt eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments, im Auftrag des FEMM-Ausschusses, der sich mit den Rechten der Frauen und der Geschlechtergleichstellung befasst.
Wirtschaft würde von höherem Frauenanteil profitieren
Untersucht wurde der aktuelle Stand der Gleichstellung im Bildungsbereich – von Grundschule bis zur Uni, sowie die Beschäftigung von Frauen in der Wissenschaft, technischen Berufen und der digitalen Wirtschaft. Obwohl der digitale Arbeitsmarkt für Frauen mit einem jährlichen Zuwachs von 2,9 Prozent zunehmend attraktiver wird, liegt der Anteil der Frauen in IKT-Berufen nach wie vor unter 2 Prozent des Gesamtanteils aller Frauen im europäischen Arbeitsmarkt.
Trotz millionenschwerer Programme und etlicher Initiativen, wie dem Nationalen Pakt für Frauen in MINT-Berufen („Komm, mach MINT“), beklagt die Branche einen teils dramatischen Fachkräftemangel und zu wenig weiblichen Nachwuchs. In der Grundschule seien es vor allem die Mädchen, die höhere IKT-Kompetenzen aufwiesen. Auch bei Eintritt in den sekundären Bildungsbereich bestehe anfängliches Interesse an MINT- & IKT-Berufen. Dieses nehme aber mit zunehmendem Alter ab. Gründe hierfür seien unter anderem veraltete Rollenbilder und eine fehlende Förderung an Schulen, um Mädchen für die Digitalisierung zu begeistern. Auch im höheren Bildungsbereich würde der Studie zufolge, eine „dominante, männliche Kultur in den Hochschulen“, die Voreingenommenheit gegenüber Frauen in männerdominierten Bereichen reproduzieren. Daher sollten Suchausschüsse und Einstellungsentscheidungen der Hochschulen auf Parität hin überprüft werden.
Das Ungleichgewicht der Geschlechter führe außerdem zu wirtschaftlichen Problemen. Denn die paritätische Besetzung digitaler Bereiche sei erstens die Voraussetzung für die Umsetzung der Europäischen Agenden „Bildung, Forschung und Innovation“. Zweitens sei Geschlechterparität für den Wohlstand der Europäischen Union von entscheidender Bedeutung, da sich diese auf das BIP, das Beschäftigungsniveau, die Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit und die Handelsbilanz der EU-Wirtschaft auswirke.
Handlungsbedarf bei KI und Cybersicherheit
Unter allen digitalen Technologiebereichen gebe es in der KI und Cybersicherheit die größte Kluft zwischen den Geschlechtern. Dies sei das Ergebnis von zu wenig weiblichen IT-Studierenden. Die Studie identifiziert außerdem Stereotypen und Vorurteile als Ursache der Geschlechterdisparität. Arbeiten aber zu wenige Frauen im Feld der KI oder Cybersicherheit, entstehen laut der Studie weitere Probleme: Die Unterrepräsentanz von Frauen führe zu einer „verzerrten KI“. Da diese überwiegend von Männern entworfen wird, entstehe eine Verzerrung der Datensätze. Als Beispiel für fehlende Diversität in Datenbanken nennt die Studie die Gesichtserkennung. Bei verschiedenen KI-Modellen konnte eine erhöhte Fehleranfälligkeit bei der Identifizierung von Frauengesichtern und Menschen mit dunkleren Hauttönen festgestellt werden.
Auch das Feld der Cybersicherheit beklagt einen zu niedrigen Frauenanteil. Gerade einmal 20 Prozent des weltweiten Cybersicherheitspersonals sind weiblich. Dieses Geschlechtergefälle könnte möglicherweise zu ineffizienter Cybersicherheit führen, da weibliche Perspektiven bei der Entscheidungsfindung fehlen würden, die die Cybersicherheit betreffen. Mit anderen Worten, Frauen und Männer haben unterschiedliche Wahrnehmungen und verfolgen unterschiedliche Vorgehensweisen in Bezug auf ihr Cybersicherheitsverhalten. Werden diese nicht verstanden und berücksichtigt kann dies zu unproduktiven Cybersicherheitspraktiken führen.
Europäische Plattform für mehr Sichtbarkeit
Zur Beseitigung der Hindernisse, die der Geschlechterparität entgegenstehen, schlägt die Studie mehrere Maßnahmen vor. Viele der bisherigen Maßnahmen seien verfehlt, weil bereits existierende Daten über die Ungleichverteilung nur unzureichend genutzt wurden. Entscheidend bei der Datensammlung sei der Erhebungszeitraum. Dieser sollte sich über den gesamten Bildungs- und Karriereweg strecken, um die „Pfade der Teilnehmer genau zu überwachen“. Außerdem sollten die sozio-kulturellen Hintergründe der Frauen untersucht werden, um ein entsprechendes Umfeld in Bildung und Arbeitswelt zu schaffen. Vor diesem Hintergrund seien neue Initiativen erforderlich, um das Geschlechtergefälle zu beseitigen, was wiederum den Wohlstand auf allen Ebenen befördern könne.
Mit der Einrichtung einer Europäischen Plattform („Multi-Stakeholder-Plattform“), die sich auf die Beseitigung der geschlechtsspezifischen Kluft in den Bereichen MINT, IKT und Digital-Sektor konzentriert, soll die Zusammenarbeit und Vernetzung unterschiedlicher Interessengruppen koordiniert werden. Aktionen, die von Frauen bisher auf kleinerer Ebene selbst organisiert wurden, sollen mittels der Plattform einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Erfahrungen verschiedener Stakeholder sollen außerdem in einem Toolkit gebündelt werden, dass als Instrumentarium für Bildungs- und Arbeitseinrichtungen dienen soll. Um etwas zu ändern, müssten die Bildungsministerien, der Bildungssektor sowie die Mädchen und Frauen selbst mit anpacken, betonen die Autoren der Studie.