Frauen in der Politik: Wie sexistisch ist der Politikbetrieb des digitalen Zeitalters?
Der zwanzigste Bundestag der Bundesrepublik ist weiblicher als sein Vorgänger. Mit 34,7 Prozent verfügt er über den zweithöchsten Frauenanteil seit der ersten Konstituierung des Parlaments am 7. September 1949. Doch immer mehr Berichte zeugen von sexueller Gewalt und Diskriminierung im Politikbetrieb. Wie steht es um die Chancengleichheit und Sicherheit für weibliche Politik-Profis? Und wie sieht es im digitalen Raum aus?
Fast ein Viertel-Jahrhundert war vergangen zwischen der ersten Sitzung im neu errichteten Reichstag am 6. Dezember 1894 und der Rede von Marie Juchacz. Als erste Frau überhaupt hielt die gelernte Schneiderin und Sozialdemokratin am 19. Februar 1919 vor einem demokratisch gewählten deutschen Parlament eine Rede. Bei der Wahl zur deutschen Nationalversammlung 1919 durften Frauen erstmals auf nationaler Ebene wählen – und sich wählen lassen. 37 Politikerinnen waren dabei erfolgreich.
Die Weimarer Republik galt damals als Vorreiterin für politische Teilhabe in Europa, obwohl Finnland bereits 1906 als erstes Land in Europa mit einem Frauenstimmrecht aufwartete. Als letzter europäischer Staat folgte übrigens Liechtenstein – im Jahr 1984.
Die Sexismusdebatte erreicht die Parlamente
Auch mehr als ein Jahrhundert nach diesem Meilenstein der deutschen Demokratiegeschichte sind selbst die mächtigsten Frauen des Landes noch immer nicht vor Diskriminierung und Sexismus gefeit. Aber die Machtzentren der Bundesrepublik werden sich des Problems zunehmend bewusst und die Kritik wird lauter. So sorgte im letzten Jahr Nadine Julitz, SPD-Abgeordnete im Landtag Mecklenburg-Vorpommerns, für einen viralen Moment, als sie einem AfD-Politiker nach einem anrüchigen Spruch die Meinung geigte (Video).
„Das ist kein Kompliment, das ist Sexismus!“ Nadine Julitz (SPD) zu Jens-Holger Schneider (AfD)
Im August dieses Jahres berichtete die bayrische SPD-Abgeordnete Bela Bach von Belästigungen und sexuellen Übergriffen im Deutschen Bundestag. Ihre Fraktion richtete anschließend eine Anlaufstelle für solche Fälle ein.
„Ein Kollege in entscheidender Funktion sicherte mir Unterstützung bei einem Antrag zu, wenn ich für ein privates Treffen zur Verfügung stünde. […] Im Plenum hat ein anderer Kollege, der mir gegenüber mehrfach mit sexistischen Sprüchen aufgefallen ist, sich so über den Sitz gebeugt, dass er mir über das Gesäß streifen konnte. Das sind Momente, da kann man nicht glauben, dass das passiert.“ Bela Bach (SPD) im Interview mit der Zeitschrift BUNTE.
Nicht zuletzt wird der Streit um die Bundestags-Sitzordnung auf anhaltende sexistische „Sprüche“ der AfD-Fraktion gegen ihre Sitznachbarn der FDP zurückgeführt. Die Liberalen wollen nun in die Mitte des Parlaments umziehen und der Union den Platz links der AfD überlassen.
Auffällig ist, dass insbesondere jüngere Generationen von Frauen in der Politik von sexistischen Strukturen betroffen und geprägt zu sein scheinen. Das hat die bisher umfangreichste Studie über Sexismus im politischen Betrieb von Allensbach und EAF ergeben. Bezüglich der empfundenen Erwartungen an Politikerinnen nahmen Dreiviertel der Unter-45-Jährigen an, dass an sie andere Erwartungen gestellt würden als an männliche Politprofis; bei Politikerinnen über 55 Jahren meinten das 61 Prozent. Dasselbe gilt für konkrete sexuelle Belästigung im Rahmen ihrer politischen Tätigkeit:
40 Prozent aller befragten Politikerinnen gaben an, schon einmal sexuelle Belästigungen erlebt zu haben; bei den unter 45-Jährigen waren es sogar 60 Prozent.
Sexismus im (digitalen) politischen Betrieb
Dabei findet Sexismus auch bei den politischen Profis immer mehr im digitalen Raum statt. In der Tendenz nehmen sexistische Angriffe umso mehr zu, je mächtiger und prominenter Politikerinnen werden. Allensbach und EAF erfragten beispielsweise, wie oft Politiker:innen in sozialen Netzwerken angefeindet, bedroht oder beleidigt würden.
Während insgesamt ein höherer Anteil der Männer (74 Prozent) als Frauen (60 Prozent) in der Politik diese Erfahrungen machten, sind es bei den auf Bundesebene politisch aktiven Frauen ganze 98 Prozent. Die restlichen 2 Prozent sind nicht in sozialen Netzwerken aktiv. Keine einzige befragte Bundespolitikerin, die in sozialen Netzwerken aktiv ist, gab an, dort niemals Anfeindungen, Bedrohungen oder Beleidigungen erlebt zu haben. Laut einer Umfrage von report München unter weiblichen Bundestagsabgeordneten waren das im Jahr 2019 mit 87 Prozent noch deutlich weniger.
17 Prozent aller befragten Politikerinnen waren zudem direkten sexistischen Angriffen in sozialen Netzwerken ausgeliefert. Auch hier trifft dies vor allem die unter 45-Jährigen mit 36 Prozent. Männer waren hingegen nur wenig betroffen (3 Prozent).
Bemerkenswert ist dabei auch, dass vor allem Frauen aus Parteien am Rand des politischen Spektrums Ziel dieser Angriffe sind: Während die Erfahrungen sexistischen Hasses in sozialen Netzwerken vor allem bei der AfD (35 Prozent) und der Linken (30,2 Prozent) häufig vorkommen, sind sie bei den „Volksparteien“ SPD (14,6 Prozent) und CDU/CSU (6,5 Prozent) vergleichsweise selten. Parteilose Frauen sind sogar „nur“ zu 2,4 Prozent betroffen.
In den letzten Jahren spielten zudem antisemitisch codierte Verschwörungsmythen wie „The Great Reset“ bei der QAnon-Bewegung eine immer größere Rolle in politischen Radikalisierungsdynamiken. Wissenschaftliche Untersuchungen offenbaren dabei zunehmend den intersektionellen Charakter des damit einhergehenden Hasses, vor allem in Richtung sexistischer Narrative.
Während des Bundestagswahlkampfs wurde Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock beispielsweise weitaus häufiger in Zusammenhang mit Verschwörungserzählungen erwähnt als ihre männlichen Kontrahenten. In den 100 meistgelesenen Posts auf Facebook und in ausgewählten verschwörungsideologisch affinen Kanälen des Messengerdienstes Telegram wurden über die Grünenpolitikerin 43 Mal Falschinformationen oder Verschwörungsideologien verbreitet, über Armin Laschet geschah das 26 Mal, über Olaf Scholz 17 Mal. In rund einem Zehntel dieser vom Institute for Strategic Dialogue (ISD) untersuchten Posts wurde dabei explizit auf ihr Geschlecht beziehungsweise Gender verwiesen, bei ihren männlichen Mittbewerbern war das jeweils nur in einem Post der Fall.
Ein optimistischer Blick nach vorn: Maßnahmen gegen geschlechtsbezogene Gewalt im Netz
Aber trotz der verehrenden Daten würde ein rein pessimistischer Blick zu kurz greifen, denn das zunehmende Bewusstsein über das Thema schlägt sich auch in politischen Entscheidungen nieder. Eine besondere Rolle im Kampf gegen geschlechtsbezogene Gewalt im Netz spielt dabei die Istanbul-Konvention des Europarats von 2011. Sie ist seit 2018 auch für Deutschland rechtlich verbindlich. Um dieser zu entsprechen, wird derzeit beispielsweise an der Einrichtung einer unabhängigen Berichterstattungsstelle gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Menschenhandel gearbeitet.
Nach den Empfehlungen des Gleichstellungsberichts 2017 hat das Bundesfamilienministerium außerdem Projekte wie „aktiv gegen digitale Gewalt“ gefördert. Damit sind Informationsangebote über Cyberstalking, digitale sexualisierte Gewalt und Cybermobbing ebenso wie entsprechende Gegenmaßnahmen zentral abrufbar geworden.
Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) von 2017 werden außerdem auch Plattformbetreiber juristisch in die Pflicht genommen. Und durch die Novellierung des Gesetzes 2020 wird ihnen ein systematisches Beschwerdemanagement ebenso abverlangt wie eine halbjährliche Berichterstattung, Auskunftsanspruch sowie empfindliche Bußgelder bei Regelbrüchen.
Zunehmend hat die Bundesregierung auch das Potenzial des digitalen Raums zum Schutz von Frauen und zur Förderung von Teilhabe erkannt. So mag es kein Zufall sein, dass bei den für die Kommunikationsbranche prestigeträchtigen PR Report Awards 2021 das Projekt „Zuhause nicht sicher?“ als beste Kampagne des Jahres ausgezeichnet wurde. Das Bundesfamilienministerium hatte sie zum Schutz gegen häusliche Gewalt in Auftrag gegeben.
So hat sich die wissenschaftliche Datenlage in den letzten Jahren deutlich verbessert, die Politik handelt zunehmend und immer mehr Initiativen aus der Zivilgesellschaft bekämpfen Sexismus im deutschen Politikbetrieb und im digitalen Raum. Aber eine Expertise von Regina Frey für den diesjährigen Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung sieht weiterhin Handlungsbedarf gegen sexistische Gewalt – vor allem im digitalen Raum. Die Politikwissenschaftlerin betont:
„Handlungsbedarf besteht in Bezug auf Schutzvorkehrungen vor allem durch staatliche Einrichtungen, insb. Polizei und Justiz, in Bezug auf die Schutz- und Beratungsinfrastruktur, im Bereich der Aufklärung, Vernetzung und Stärkung von Initiativen.“
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