EU-Prioritätenliste: Kommission plant den digitalen Schnellstart
Verstärkte Förderung der Wirtschaft, Ausbau der digitalen Infrastruktur, Regulierung von Plattformen: Die EU-Kommission verfolgt ambitionierte Ziele in der neuen Legislaturperiode. Das geht aus einer Prioritätenliste hervor. Ob die Vorhaben jedoch auch in dieser Form umgesetzt werden, ist noch fraglich.
Die EU-Kommission plant nach ihrem Amtsantritt mit massiven Strukturreformen die Digitalisierung in Europa voranzutreiben. Das geht aus dem Entwurf einer Prioritätenliste hervor. In dem insgesamt 173-seitigen Papier werden Vorschläge für die ersten Arbeitsmonate der neuen Kommission unter deren designierter Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU) gesammelt. Die Unionspolitikerin wurde Mitte Juli vom Europäischen Parlament gewählt und tritt ihren Posten vermutlich Anfang November an.
Einrichtung eines Zukunftsfonds
Im Bereich Wirtschaftsförderung ist die Etablierung eines „European Future Funds“ geplant, der die „EU-weiten Bemühungen um die wirtschaftliche Souveränität“ des Kontinents „bündeln“ soll. Unter anderem sollen bereits existierende Fördertöpfe als Hebel verwendet werden, um weiteres privatwirtschaftliches Engagement anzustoßen. Der European Future Funds könnte dabei als Co-Investor auftreten.
Auf diese Weise sollen insgesamt 100 Milliarden Euro an öffentlich-privatwirtschaftlich finanzierten Investitionen bereitgestellt werden. Die Kommission erhofft sich davon die Stärkung europäischer Unternehmen im Wettbewerb mit den USA und China. „Der Aufstieg und die Führungsposition privater Wettbewerber aus Drittländern, die mit beispiellosen Finanzmitteln ausgestattet sind, hat das Potenzial, die bestehende Innovationsdynamik und industrielle Position der EU-Industrie in bestimmten Sektoren zu schwächen“, heißt es in dem Papier. Der Fonds soll dabei langfristige strategische Ziele verfolgen und profitorientiert arbeiten.
Schlüsseltechnologien sollen gefördert werden
Außerdem wird die Verabschiedung eines „Digital Leadership Packages“ angedacht. Das Maßnahmenpaket soll unter anderem helfen, die wichtigsten strategischen Investitionsziele der Europäischen Union zu identifizieren und Mittel der EU und aus den Mitgliedsstaaten zu bündeln. Konkret werden in dem Papier Hochleistungsrechner, Mikroelektronik und Quantencomputer genannt. Als konkrete Maßnahmen sind die Reform der Regulierung für Hochleistungsrechner und eine Neufassung des ECSEL-Programms zur Förderung von Investitionen in elektronische Bauteile und Systeme angedacht.
Auch im Bereich Agrarwirtschaft, einem der wichtigsten Arbeitsbereiche europäischer Politik, sind weitreichende Förderprogramme geplant. So wird angestrebt, dass bis 2025 zehn neue europäische „Unicorns“ in der Agrarwirtschaft entstehen, also Start-ups mit einer Bewertung von mindestens einer Milliarde Dollar. Dazu soll die Digitalisierung der Landwirtschaft vorangetrieben werden. Im Jahr 2025 sollen 25 Prozent der europäischen Agrarbetriebe mit Technologien der Künstlichen Intelligenz (KI) arbeiten.
Außerdem sollen bis dahin sämtliche Regionen Europas mit schnellem Internet versorgt sein. Ob dies auch für schnelles mobiles Internet gilt, geht aus dem Papier nicht hervor. Eine bedeutende Rolle in diesem Konzept spielt dabei das Erdbeobachtungsprogramm Copernicus. Es könnte dabei helfen, die Flächennutzung zu optimieren und Veränderungen in der Umwelt rechtzeitig zu erkennen. Bis 2025 sollen alle Mitgliedsstaaten das System nutzen.
Recht auf „Wiederbenutzung und Reparatur“ für Elektronik
Ein weiterer wichtiger Punkt in dem Papier ist die Förderung des Recyclings und der Kreislaufwirtschaft. So ist geplant, binnen der ersten 100 Tage ein Belohnungssystem für die Rückgabe von gebrauchten und nicht mehr genutzten Mobiltelefonen zu etablieren. Dazu soll die Zahl der Rückgabepunkte gesteigert werden. Außerdem könnten „Green Vouchers“ für die Rückgabe von Elektronikmüll ausgegeben werden, die dann für andere Güter und Leistungen eingetauscht werden könnten.
Insgesamt soll die Kreislaufwirtschaft gefördert werden. Durch neue Designvorgaben sollen Produkte langlebiger, reparierbar und ressourceneffizient werden. Für Elektronikkonzerne könnte dies weitreichende Konsequenzen haben: Es soll ein Recht auf „Wiederbenutzung und Reparatur“ geben. Das könnte zum Beispiel jene Produkte ausschließen, die ab Werk verklebt und nicht verschraubt sind, was eine Reparatur in Teilen unmöglich macht.
Europäisches Abwehrzentrum für Desinformation
Im Bereich Cybersecurity sind ebenfalls verschiedene Maßnahmen angedacht. So soll unter anderem die IT-Sicherheit des europäischen Finanzsektors verbessert werden. Dazu soll es neue Standards für die in Gebrauch befindliche Informations- und Kommunikationstechnologie und eine Meldepflicht für Cyber-Vorfälle geben.
Darüber hinaus soll es ein europaweites Desinformations-Abwehrzentrum geben. Im Rahmen dieser Maßnahme wird auch die Einrichtung einer Website vorgeschlagen, die über Desinformationsversuche aufklären soll.
Plattformen sollen zur Überwachung von Nutzerinhalten verpflichtet werden
Ein bemerkenswerter Vorstoß verbirgt sich hinter der etwas sperrigen Bezeichnung „Initiative für eine sichere und verantwortungsvolle Nutzung des Internets“: Es könnte bald für die Betreiber von Plattformen eine Verpflichtung zur Überwachung von Nutzerinhalten geben. In diesem Fall fiele die Verantwortung für die Veröffentlichung von rechtswidrigen Inhalten – zum Beispiel Hate Speech, Terrorismus-Propaganda oder Kinderpornografie – den Betreibern der Plattformen zu. Sie müssten sicherstellen, dass Inhalte gelöscht und die entsprechenden Accounts gesperrt werden. Ferner wären sie sogar verpflichtet, „proaktiv“ zu agieren und die Veröffentlichung von strafwürdigen Inhalten bereits im Vorfeld zu verhindern. Dazu müssten sie auch mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten. Wo die inhaltlichen Grenzen liegen, bei denen die Plattformen zum Handeln gezwungen sind, wird in der Prioritätenliste noch nicht näher definiert.
Plattformbetreiber könnten auch von einem weiteren Vorhaben betroffen sein, dass in der Prioritätenliste angerissen wird: Bis Mitte nächsten Jahres soll die EU auf Ebene der OECD und der G20-Staaten eine Neuordnung der Unternehmensbesteuerung auf den Weg bringen. Einerseits sollen Gewinne verstärkt „markt- und nutzerorientiert“ besteuert werden, eben dort, wo die Wertschöpfung entsteht. Andererseits wird die Einführung einer globalen Mindeststeuer auf Unternehmensgewinne angestrebt.
Ob die in der Prioritätenliste beschriebenen Maßnahmen auch in dieser Form umgesetzt werden, ist jedoch noch fraglich. Zum einen muss sich die Kommission mit dem Parlament und dem Rat, also den Regierungen der Mitgliedsländer, einigen. Zum anderen steht die Besetzung der einzelnen Posten in von der Leyens Kommission noch gar nicht fest. Da das Parlament über deren Wahl noch mitbestimmt, könnten ambitionierte und bisweilen progressive Vorschläge wie in dem Prioritätenpapier auch dazu dienen, die Chance auf eine Zustimmung des Parlaments zu erhöhen. Linke und liberale Parteienfamilien verfügen derzeit über eine knappe Mehrheit im EU-Parlament.
Tagesspiegel Background
Der vorstehende Artikel erscheint im Rahmen einer Kooperation mit dem Tagesspiegel Background auf der Website des BASECAMP.