Digitale Demoskopie: Die Zukunft der politischen Meinungsforschung?

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Veröffentlicht am 01.06.2022

Von Benjamin Triebe

Es ist zuletzt mal wieder passiert: Die Umfragen vor Landtagswahlen sagten ein knappes Rennen voraus, doch am Ende lagen die Vorhersagen und das Wahlergebnis überraschend weit auseinander. Woran liegt das und welche Rolle spielen digitale Methoden mittlerweile für die politische Meinungsforschung?

Wenn ein Wahltermin näher rückt, nimmt das allgemeine Interesse an den entsprechenden Umfragen stetig zu. Besonders Politik und Medien schauen im Schlussspurt des Wahlkampfs fast täglich auf die neuesten Zahlen der Meinungsforschungsinstitute. Doch nicht selten liegen diese mit ihren „politischen Stimmungsbildern“ – den Begriff der Vorhersage oder Prognose meiden sie lieber – gegenüber dem tatsächlichen Ergebnis daneben.

Von Sachsen-Anhalt bis NRW

Aktuell war das etwa beim wichtigen Wahlgang in Nordrhein-Westfalen der Fall, für den die meisten Vorwahlumfragen einen knappen Ausgang zwischen CDU und SPD prognostizierten. Am Wahlabend betrug die Differenz zwischen den beiden Parteien dann jedoch neun Prozentpunkte im bevölkerungsreichsten Bundesland. Betrachtet man die Abweichungen bei den Ergebnissen der übrigen Parteien, schnitten die meisten Institute trotzdem noch besser ab als bei der Wahl eine Woche zuvor in Schleswig-Holstein.

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Noch größer fiel der Widerspruch zwischen Umfragen und Endergebnis vor einem Jahr bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt aus: Statt eines Kopf-an-Kopf-Rennens zwischen CDU und AfD gab es schließlich einen Vorsprung von 16 Prozentpunkten für die Unionspartei. Immerhin konnten die Demoskopen ihre Umfragen vor der Bundestagswahl im vergangenen September als klaren Erfolg verbuchen.

Warum Umfragen daneben liegen können

Als Gründe für den Trend einer auffälligen Diskrepanz zwischen Prognosen und Wahlergebnissen werden in der Regel mehrere Punkte angeführt: die Ausdifferenzierung des Parteienspektrums und eine geringere Parteibindung; ein verändertes Wahlverhalten mit mehr Wechselwählern, mehr Schlussmobilisierung und mehr taktischem Wählen in letzter Minute – gerade auch in Reaktion auf Umfragen, die zwei Parteien an der Spitze eng beieinander sehen.

Hinzu kommt, dass bei Landtagswahlen häufig kleinere Stichproben als bei bundesweiten Wahlen genutzt werden, wodurch die Wahrscheinlichkeit von Abweichungen steigt. Außerdem folgen die Aussagen von Befragten bei Erhebungen nicht selten dem Prinzip der sozialen Erwünschtheit, z.B. wenn beim Telefon-Interview angegeben wird, selbstverständlich wählen zu gehen oder nicht zuzugeben, dass man für eine Protestpartei stimmen möchte.

Deshalb wehren sich Vertreter aus der Meinungsforschung zum Teil gegen den Vergleich ihrer Umfragen mit dem Wahlausgang. So betonte vor kurzem etwa der Geschäftsführer von forsa, Peter Matuschek, dass „die Entwicklung von Wahlabsichten über die Zeit hinweg“ im Fokus stehen solle statt Abweichungen von Prozentpunkten und Rankings der Institute nach den Wahlen.

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Das Interesse der Öffentlichkeit an der Qualität und Aussagekraft von Umfrageergebnissen ist allerdings durchaus nachvollziehbar, da die präsentierten Zahlen die Realität nicht nur abbilden möchten, sondern diese zugleich mit prägen (wie z.B. der Skandal um Sebastian Kurz gezeigt hat). So nutzen Parteien Meinungsumfragen im Vorfeld von Wahlen zum Beispiel um ihre Kampagnen zu planen, die Beliebtheitswerte der Spitzenkandidaten zu messen oder die Wirkung von einzelnen Programmpunkten und Plakaten zu testen. Zuletzt hat sich sogar Jan Böhmermann in seinem ZDF Magazin Royale satirisch-überspitzt des Themas angenommen und auf einige kritische Punkte der Meinungsforschung hingewiesen.

Mobilfunk und Internet als Herausforderung

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Dabei wurde auch ein Grund für weniger genaue Umfragen angesprochen, der mit dem technologischen Wandel der Gesellschaft zusammenhängt: Lange hat die Meinungsforschung in Deutschland auf Telefonumfragen über Festnetzanschlüsse gesetzt, was den Vorteil bot, die Befragten per Vorwahl schnell und einfach einem Bundesland oder Ort zuordnen zu können. Die Zunahme von reinen Mobilfunkkunden und die offenbar gesunkene Bereitschaft, überhaupt an Telefonumfragen teilzunehmen, stellen deshalb eine Herausforderung für die Demoskopen dar, die Repräsentativität ihrer Stichproben sicherzustellen. Hinzu kommt der digitale Raum, in dem sich immer mehr Menschen bewegen und wo Erhebungen stattfinden können – wenn es denn gelingt, dort unter den Befragten ein Abbild der gesellschaftlichen Grundgesamtheit herzustellen.

In der Branche gibt es seit einigen Jahren eine Auseinandersetzung darüber, wie man mit diesem Wandel umgehen und die eigenen Methoden anpassen soll. Dies wird speziell durch neue Anbieter befeuert, die vor allem auf Online-Befragungen setzen und den traditionellen Instituten damit Konkurrenz bei den Kunden und der öffentlichen Aufmerksamkeit machen. Besonders im Fokus steht hier das Startup-Unternehmen Civey, dem von den etablierten Instituten häufig Unseriosität vorgeworfen wird.

Ein zentraler Kritikpunkt: Civey wählt seine Umfrageteilnehmer nicht per zufälliger Stichprobe aus, sondern gewinnt seine Daten durch freiwillige Teilnehmer im Internet, deren Angaben anschließend in Echtzeit gewichtet werden, auch mithilfe von Algorithmen. Dies verzerre die Aussagekraft der Umfragen, zumal all die Menschen herausfallen, die das Internet – aus welchen Gründen auch immer – nicht nutzen.

Digitale Methoden auf dem Vormarsch

Die Marktforschung im Allgemeinen greift mittlerweile durchaus zu digitalen Methoden wie Künstlicher Intelligenz (KI), Big Data, Natural Language Processing (NLP) und Text Analytics, um große Mengen der im Internet generierten Daten auszuwerten und auf diese Weise Kundenbedürfnisse und Zielgruppen zu analysieren. Speziell in der politischen Meinungsforschung ist man aber weiterhin darauf angewiesen, Menschen auch direkt nach ihren Ansichten zu befragen. Dies kann in unterschiedlicher Form erfolgen: entweder klassisch per Telefon-Interview (seltener per Face-to-face-Gespräch) oder per Online-Befragung.

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Aufgrund des erwähnten Wandels und der damit verbunden Repräsentativitätsprobleme sind die meisten Institute bei ihren Erhebungen bereits zu einem Methodenmix übergegangen und kombinieren Telefon-Interviews mit digitalen Befragungen. Und bei den Telefonbefragungen kommt in der Regel auch ein gewichtetes „Dual-Frame-Verfahren“ zur Anwendung, dass sowohl Festnetz- als auch Mobilfunknummern einbezieht. Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen haben bereits fünf der sechs bekannten Institute Onlinebefragungen durchgeführt – allerdings mit den anfangs erwähnten durchwachsenen Ergebnissen.

In der absehbaren Zukunft wird die digitale Verarbeitung von Daten eine noch größere Rolle für die Meinungsforschung spielen, etwa wenn es darum geht, Modellierungen des wahrscheinlichen Wahlverhaltens vorzunehmen. Die bisherige Gewichtung relevanter Faktoren (z.B. Bildung, Einkommen, Alter, Parteibindung, politisches Vertrauen, Wahlbereitschaft usw.) wird mit der zunehmenden gesellschaftlichen Vielfalt nämlich voraussichtlich immer komplexer. Und über kurz oder lang wird sich auch die etablierte Demoskopie diesen Entwicklungen nicht verschließen können, wenn sie relevante und akkurate Ergebnisse liefern möchte.

Dieser Artikel ist im Rahmen einer Kooperation mit polisphere auf der Webseite BASECAMP.digital erschienen.

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