Demokratie: Digitale Technologien für mehr Partizipation
Foto: CC0 1.0, geralt | Ausschnitt angepasst
Digitale Technologien schaffen eine neue Form der politischen Partizipation, die unabhängig von Standort und Zeitpunkt funktioniert. Demokratie wird dadurch transparenter, integrativer und partizipativer. Weltweit gibt es einige Beispiele, wie die Zivilbevölkerung aktiv am politischen Diskurs mitwirken kann. In Taiwan setzt sich eine „staatsbürgerliche Hackerin“ bereits für absolute Regierungs-Transparenz und eine stärkere Mitbestimmung der Bürger*innen ein.
Über viele Jahre hinweg hat die Internetnutzung in Deutschland stetig zugenommen, wie die ARD/ZDF-Onlinestudie 2019 zeigt. Google verzeichnet mittlerweile rund 40.000 neue Suchanfragen pro Sekunde. Dies entspricht etwa 1,7 Megabyte neuer Daten, was mit 300 Blatt Papier gleichzusetzen ist. Der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments (EPRS) skizziert in der Analyse Ten issues to watch in 2020, wie die vermehrte Nutzung von Online-Diensten auch politische Partizipation verstärken kann. Vernetzte soziale Bewegungen hätten gezeigt, dass mithilfe digitaler Technologien große Menschenmengen schnell und effektiv mobilisiert werden können, um Regierungsentscheidungen zu konterkarieren. Die Mehrzahl der weltweiten Massenproteste, die 2019 ausbrachen, seien durch den Einsatz von Smartphones und sozialen Netzwerken inspiriert und koordiniert wurden.
Regierende Hacker
In Taiwan ist die zivilgesellschaftliche Beteiligung an politischen Entscheidungen bereits Realität. Auslöser des Versuchs, das Parlament und die Bevölkerung besser zu vereinen, war eine Studenten-Protestbewegung im Jahr 2014, der auch die derzeit amtierende Digitalministerin Taiwans, Audrey Tang, angehörte. Mit dem Projekt „vTaiwan“ hat es sich die taiwanesische Regierung zum Ziel gemacht, für das Internet, das „allen und gleichzeitig niemandem gehört“, eine neue Politik zu erfinden. Onlinedebatten sollen mittels eines Kommentarsystems mehr Transparenz und Konsens in das Regierungshandeln bringen und die Zivilgesellschaft zur Mitbestimmung animieren.
Anders als in den sozialen Netzwerken publiziert die Plattform ausschließlich „Konsensartikel – Aussagen, denen viele Menschen zustimmen“. Dabei verzichtet die Plattform darauf, Aussagen hervorzuheben, die starke (negative) Emotionen hervorrufen und die Meinungen der Beteiligten zu spalten drohen. Stattdessen werden die einvernehmlichsten Aussagen besser sichtbar. Damit will die Regierung gängige Methoden aus den sozialen Netzwerken, wie eifrige Zustimmung oder Empörung umgehen und den Konsens fördern.
Mittlerweile unterliegen alle Regierungsentwürfe einer 60-Tage vorab Kommentierung, um die Stimmen der Gesellschaft einzufangen. „Wir machen die Hackerkultur zu einem Teil des öffentlichen Dienstes. Wir bringen nicht nur Hacker rein, wir machen die Regierung zu Hackern“, sagt Tang, die sich selbst als „staatsbürgerliche Hackerin“ beschreibt.
Civic Tech für zivilgesellschaftliche Arbeit
Programmierer*innen, demokratische Innovator*innen und andere Personen die technische Mittel für das Allgemeinwohl einsetzen bezeichnen sich selbst als sogenannte „Civic-Techies“. Sie entwickeln Informationstechniken, Abstimmungs- und Partizipationswerkzeuge sowie Kommunikationsplattformen, welche die öffentliche Infrastruktur verbessern, Inklusion und Integration fördern und im besten Fall strukturelle Barrieren bekannter Lösungsansätze überwinden.
Auch die Europäische Kommission hat es sich zur Aufgabe gemacht, der Demokratie einen „neuen Schub“ zu verpassen. Die Vizepräsidentin für Werte und Transparenz, Věra Jourová, bekräftigte die Bedeutung digitaler Instrumente für die Einbeziehung der Bürger*innen in politische Prozesse und verwies insbesondere auf das Webportal „Have your say“. Mit der Online-Plattform konzipierte die Kommission ein Instrument, um Bürger*innen unmittelbar an der Entwicklung von Strategien und Kommissionsinitiativen der EU zu beteiligen, indem die Nutzer*innen online ihre Präferenzen zu politischen Zukunftsszenarien ausdrücken können.
Gamification zur Motivation
Die technologische Innovation verspricht zwar, die EU-Politikgestaltung noch partizipativer zu gestalten, ist aber auch kein Allheilmittel. Trotz der digitalen Möglichkeiten nutzten nach der Analyse des EPRS bisher nur etwas mehr als die Hälfte der europäischen Bevölkerung Online-Beteiligungsverfahren. Verwaltungen weltweit versuchen aber die Beteiligung durch neue Ansätze zu steigern: Ein Beispiel ist das Experimentieren mit Gamification-Ansätzen bei Entscheidungsfindungsprozessen (z. B. Abzeichen, Punkte, Levels, Ranglisten). Dabei geht es laut EPRS darum, die Demokratie wieder an den Erwartungen der Bürger auszurichten und die Teilnahme spielerischer und lohnender zu gestalten. Ganz unbedenklich seien solche Ansätze aber nicht: Sowohl die Über- als auch die Unterregulierung des Technologieeinsatzes in der Politikgestaltung könnten rechtlich problematisch sein und Ungleichheit verstärken oder die Privatsphäre verletzen.
Digitalministerin Dorothee Bär sieht in der Online-Partizipation von Bürger*innen dennoch einen Mehrwert: „Wenn die Partizipation tatsächlich für unser Gemeinwohl nur einen Mausklick entfernt ist, ohne, dass es manipulierbar ist, wäre das eine gute Sache“, sagt Bär in einem Interview und verweist dabei auf digitale Wahlen: „Wir haben im Kabinett eine Änderung im Sozialgesetzbuch beschlossen. Es wird ein Modellprojekt zu Onlinewahlen bei den Sozialwahlen 2023 eingeführt. Wir werden sehen, ob sich das bewährt, inwiefern das System verbessert werden kann, und dann wird man in einigen Jahren prüfen, ob sich das System übertragen lässt.“