Dark Social und Big Tech: Politische Radikalisierung im Netz
Von Gregor Bauer
Die politische Radikalisierung hat während der Corona-Pandemie eine neue Dynamik gewonnen. Viel wird daher über Telegram und ein mögliches Verbot des Messengerdienstes diskutiert. Was wissen wir inzwischen über diese Radikalisierungstendenzen? Was haben sie mit der Digitalisierung zu tun? Und was können wir dagegen tun?
Das immer mehr in den öffentlichen Fokus rückende Phänomen der politischen Radikalisierung bedeutet nicht nur lautstarke Demonstrationen oder Protest-Wahlverhalten in Richtung der Rechtsaußen-Parteien. In den schlimmsten Ausprägungen bedeutet sie die systematische Bedrohung von Minderheiten, Gewalt, online verbreiteter Hass und die Gefährdung der fragiler gewordenen „westlichen“ demokratischen Systeme.
Ein extremistisches, gesamtgesellschaftliches und intersektionelles Phänomen
Im Januar 2022 machte die Bundesregierung öffentlich, dass 2021 so viele politisch motivierte Straftaten verübt wurden wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen vor zwanzig Jahren. Auch die Zahl bewaffneter Rechtsextremist:innen ist innerhalb eines Jahres um fast 30 Prozent gestiegen. Und auch fern von Straftaten und radikalen Gruppen haben Menschen den Eindruck, dass die Gesellschaft zunehmend verroht. Das fand eine kürzlich veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung heraus. Demnach meinen 61 Prozent der Befragten, dass sich der Zusammenhalt in Deutschland seit Beginn der Pandemie verschlechtert hat. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung kam zu übereinstimmenden Ergebnissen.
Der Länderbericht des Institute for Strategic Dialogue (ISD) nennt insbesondere die Radikalisierung der Corona-Proteste in Deutschland besorgniserregend. Rechtsextremistische, ethno-nationalistische Gruppierungen wie die Identitäre Bewegung oder Parteien wie Der III. Weg, Die Rechte oder die NPD verzeichnen Zugänge und eine gesteigerte Aufmerksamkeit durch die Querdenken-Unterstützer:innen.
„Die Gesellschaft leidet unter der Pandemie – auf verschiedenen Ebenen. Es gibt ein gestiegenes Aggressionspotenzial, sowohl im digitalen Raum als auch im Alltag.“ Psychologin und Radikalisierungsexpertin Pia Lamberty im RND-Interview
Politische Radikalisierung zeigt sich also in den Extremen ebenso wie im gesamtgesellschaftlichen Miteinander. Aber auch inhaltlich und in den Feinbildern lässt sie sich kaum eingrenzen. Zu diesem Schluss kam eine Metastudie über Antisemitismus im Dark Social. Unser Team bei polisphere hat unter anderem Manifeste von terroristischen Tätern untersucht, die bestehende Forschung ausgewertet sowie Chatgruppen auf Telegram und anderen Plattformen des Dark Social beobachtet. Ein Ergebnis: Hass ist durchlässig. Frauenfeindlichkeit, LGBTQ-Feindlichkeit, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit bedienen sich fast identischer argumentativer Strukturen, stammen von nahezu gleichen typischen Radikalisierungs-Persönlichkeiten und radikalisieren sich auf ähnliche Weise.
Insbesondere in der Beobachtung des Dark Social zeigte sich jedoch, dass der Weg von einer Ausformung des Hasses zum Antisemitismus besonders schnell beschritten wird. Die Corona-Krise wirkte hierbei als Brandbeschleuniger für einen sich schon seit Jahren vertiefenden, vieldimensionalen Antisemitismus. Fast jeder Dritte der 18- bis 29-jährigen Deutschen denkt antisemitisch, so eine aktuelle Umfrage des Jüdischen Weltkongresses.
Dieser beschleunigte Anstieg gerade jetzt ist vielleicht kein Zufall. Seit Jahrhunderten basierten Verschwörungstheorien, die sich historisch regelmäßig zu Zeiten von Katastrophen und Seuchen verbreiteten, auf einer Schablone des Hasses gegen Jüd:innen. Schon die ersten Pogrome auf deutschem Boden wurden wahrscheinlich nach der Verbreitung der Pest im Jahr 1348 verübt. Neuer Hass kann sich alter Narrative schablonenartig bedienen und formt sich so oft antisemitisch aus.
Die Rolle des Dark Social
Anders als in früheren Zeiten, in denen Verschwörungsmythen Hass und letztlich Gewalt produzierten, mischt heute auch die digitale Sphäre mit. Im Zuge der Verbreitung von Corona-Verschwörungserzählungen konnte laut dem genannten ISD-Bericht der größte ethno-nationalistische Channel im Messengerdienst Telegram 33 Prozent mehr Follower gewinnen. Der größte Neonazi-Kanal hat seine Reichweite mehr als verdoppelt (plus 145 Prozent), der größte anti-muslimische wuchs um 186 Prozent.
Burkhard Freier, der scheidende Chef des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen verwies kürzlich auf das Radikalisierungspotenzial einer „riesengroßen virtuellen Szene“. Seine Behörde warnt allein in NRW vor einer Gruppe von 50.000 bis 100.000 Menschen, die an Protesten mitwirkten. Etwa 4.000 von ihnen seien bereits rechtsextremistisch radikalisiert – mit steigender Tendenz.
In einer Analyse von 8.000 Telegram-Nachrichten kam auch polisphere zu dem Ergebnis, dass die Querdenkenbewegung sich nach rechts und antisemitisch radikalisiert. Sowohl als Indikator als auch als Beschleuniger der Radikalisierung spielt hier Sprache eine wichtige Rolle. Gewaltbetonende Begriffe wurden im Laufe des Monitorings immer häufiger. Unter dem Vorwand der eigenen ursprünglichen Friedfertigkeit und des Schutzes von (angeblich) Schwachen werden Gewalt- und Mordpläne geschmiedet.
Ein Problem von Telegram ist dabei, dass das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) nicht angewendet wird. Das heißt, der Messengerdienst verpflichtet sich nicht, strafrechtlich relevante Inhalte zu löschen oder eine Anlaufstelle für Verstoßmeldungen einzurichten.
Dabei werden in diesen Gruppen in weitaus höherem Maße Begriffe verwendet, die schon während der Zeit des Nationalsozialismus Konjunktur hatten. Nicht nur inzwischen bekannte antisemitische Chiffren wie „Rothschild“ oder „Zionismus“, sondern zunehmend auch solch historisch relevanten Wörter wie „Reinigung“, „zerstören“ oder „Vernichtung“ werden weit häufiger in den Telegram-Chats der Querdenker genutzt als in anderen Chats oder in deutschsprachigen Publikationen.
Der Messengerdienst funktioniert wie eine Radikalisierungsmembran: Von größeren, harmlos wirkenden Chatgruppen, die vornehmlich zum Beispiel über den Schutz von Kindern sprechen, bewegen sich radikalisierende Menschen zu der nächsten Gruppe mit immer deutlicheren Gewaltfantasien und Botschaften des Hasses. Andere, weniger bekannte Plattformen des Dark Social wie die Foren auf 8Kun oder die Videoplattformen Bitchute und Odysee sind oft das Ende dieser Radikalisierungskette.
Die Rolle der großen Plattformen
Allerdings beginnt Radikalisierung meist schon in den größeren Online-Plattformen. Wie eine ISD-Studie im vergangenen Juli nachzeichnete, sind rechtsextreme Gruppen nach der Anwendung des NetzDG ab 2018 von Facebook, wo sie sich formiert hatten, zu Telegram und anderen einschlägigen Plattformen gewandert.
„Corona-Leugner“ gingen den gleichen Weg, nachdem Sie über Facebook oder Youtube auf entsprechende Desinformationen stießen, die dann aber zunehmend gelöscht wurden. Auf Telegram fanden sie schließlich die bestehenden Netzwerke der rechtsextremistischen Szene vor und bedienten sich dieser.
Die Initiative Reset, die sich für strengere Regulierung von sozialen Medien einsetzt, hat analysiert, dass die durch Algorithmen automatisierten Empfehlungssysteme von YouTube und Facebook Desinformationen zu einer Vervielfachung der Reichweite verhelfen. Radikale Positionen würden so vom Rand der Gesellschaft in den Mainstream getragen. So konnte Reset unter anderem zeigen, dass Nutzer:innen auf Facebook oder Instagram, die dort nach dem Schlagwort „Impf“ suchen, anschließend der Beitritt in impfkritische Gruppen vorgeschlagen wird.
Gegenmaßnahmen
Politische Radikalisierung stellt eine gravierende, dringliche Belastung für demokratische Systeme dar, das ist unbestritten. Gleichzeitig wissen wir aber auch immer mehr darüber, welche Gegenmittel wirksam sind. Und die Zivilgesellschaft formiert sich.
In vielen Fällen funktioniert der Glaube an Corona-Verschwörungsmythen, wie geschildert, als Einfallstor für eine politische Radikalisierung in die rechte und rechtsextremistische Szene. Sie verzeichnet zwar Zuwachs. Doch verringert sich auch ihr Rekrutierungspool durch erfolgreiche Informationskampagnen. So hat eine Studie des gemeinnützigen Think Tanks dpart gezeigt, dass sich bereits 2021 der Anteil der an Corona-Verschwörungserzählungen glaubenden Menschen in Deutschland auf 9 Prozent verringert hat. 2020 waren es noch 15 Prozent.
Zuletzt wurde außerdem die Wirksamkeit des NetzDG beleuchtet. Laut einer Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat das Gesetz eine Reduktion von 10 Prozent an Hasskommentaren in 200.000 AfD-nahen Accounts auf Twitter bewirkt. Und auch Einzelpersonen können immer mehr tun. So hat die Stanford University durch Experimente mit Bots feststellen können, dass ein Konzept namens „Empathische Gegenrede“ Wirkung zeigt: Wenn ein:e Produzent:in von Hasskommentaren auf die potenzielle Verletzung des Opfers aufmerksam gemacht wird, verringert sich die Zahl weiterer Hasskommentare.
Im Dezember hat sich zudem das Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz gebildet. Vier etablierte Organisationen aus der Zivilgesellschaft – Das NETTZ, HateAid, jugendschutz.net und Neue deutsche Medienmacher:innen – haben sich darin zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen digitale Gewalt und Hass im Netz vorzugehen.
Und selbst Telegram scheint das Phänomen der politischen Radikalisierung in seinen Chatgruppen nicht länger ignorieren zu können. So hat der Messengerdienst laut Recherchen von Netzpolitik.org kürzlich begonnen, Inhalte von Verschwörungserzählungen zumindest punktuell zu löschen. Wie nachhaltig dieses Vorgehen sein wird, ist noch offen. Es zeigt aber, wie wichtig es ist, dass Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft die politische Radikalisierung im digitalen Raum weiter benennen, erforschen und adressieren – um Hass und Gewalt einzudämmen und die demokratische Öffentlichkeit zu verteidigen.
Dieser Artikel ist im Rahmen einer Kooperation mit polisphere auf der Webseite BASECAMP.digital erschienen.
Mehr Informationen:
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