Cyber-Poesie
Dichter haben schon immer neue Wege gesucht, um ihre Gefühle und Gedanken niederzuschreiben. Da verwundert es nicht, dass die Dichter des digitalen Zeitalters die neuen Möglichkeiten der Technik nutzen, um mit Worten zu experimentieren. Daraus entstanden ist ein Genre, das mit e-poetry, digital poetry oder cyberpoetry noch relativ neu und bisher recht unklar definiert ist.
flash poems – Gedichte in Bewegung versetzen
Eines der bekanntesten Gedichte dieser Art lässt sich nicht ausdrucken und vortragen, denn es ist ein flash poem. Bereits im Jahr 2000 veröffentlichte Brian Kim Stefans sein mit flash animiertes Gedicht „The Dreamlife of Letters”. Vor einem simplen orangen Hintergrund fahren Buchstaben aus allen Richtungen durch’s Bild und formen sich spielerisch zu Worten, die sich über den Bildschirm jagen. Die Worte basieren auf einem Gedicht der amerikanischen Lyrikerin Rachel Blau DuPlessis und bilden vor dem passiven Leser eine ganz neue Landschaft. Es ist fast ein Film, der vor dem Zuschauer abläuft, doch die Interpretation wird durch den fehlenden Zusammenhang der Wörter nicht weniger. Die Instabilität der Sprache, das Eigenleben von einzeln stehenden Wörtern und das Potenzial der Schrift als Design – all dies wollte der technikaffine Künstler mit diesem Experiment ausdrücken.
sound poetry – Gedichte aus Geräuschkulissen
Brian Kim Stefans hat der Sprache mit seinem flash poem eine Ästhetik gegeben, Jim Andrews gab ihr Geräusche und Töne. Sein bekanntes Gedicht „Nio“ ist eine interaktive Soundkulisse und auch für Kunstmuffel ein nettes Spielzeug. Durch Anklicken verschiedener Zeichen lassen sich die Töne übereinanderlegen. So wird ein Tonteppich aus unterschiedlichen Gesängen geknüpft, während die Buchstaben in die Tiefe purzeln. Dass jedes gute Gedicht einen bestimmten Rhythmus haben soll, bekommt durch die sound poetry eine ganz neue Bedeutung.
Poesie von Mensch oder Maschine?
Doch cyberpoetry kann auch noch ganz andere Dimensionen haben. Es kann bedeuten, dass ein Gedicht nicht von einem Menschen geschrieben wurde, sondern von einem Computer. Schon in den 1980er Jahren entwickelte der Erfinder und Futurist Ray Kurzweil seinen Cybernetic Poet, eine Software, die eigenständig Gedichte schreiben konnte, nachdem sie Poesie verschiedener Autoren „gelesen“ hatte. Ein Gedicht des Cyber-Poeten klingt beispielsweise so:
Angel
Beams of the dawn at the angel
with a calm, silent sea
with a hundred times we write,
with a chance we can open up
a steady rhythm in his face
silent room
desolate beach,
Scattering remains of love.
In mehreren Tests im Laufe der 1980er Jahre stellte Ray Kurzweil fest, dass Erwachsene nur zu 60 Prozent korrekt unterscheiden konnten, ob es sich bei dem Verfasser um einen Menschen oder eine Maschine handelte. Upgrades für die Software zum Herunterladen werden inzwischen nicht mehr aktualisiert, doch die Gedichte des Cyber-Poeten gibt es noch zum Nachlesen. Wie romantisch man ein computergeneriertes Gedicht findet, ist natürlich Geschmackssache. Der Cyber-Poet leistet in einem Haiku die entsprechende Überzeugungsarbeit:
You broke my soul
the juice of eternity,
the spirit of my lips.
Der vorstehende Artikel erscheint im Rahmen einer Kooperation mit dem Berliner Informationsdienst auf UdL Digital und ist Teil der aktuellen Ausgabe zur Netzpolitik. Aylin Ünal ist als Redakteurin des wöchentlich erscheinenden Monitoring-Services für das Themenfeld Netzpolitik verantwortlich.