Bundestagswahl 2017: „Der Wahl-O-Mat belohnt das Selber Denken“
Am 30. August ist es soweit, Deutschlands beliebtestes Wahltool startet: der Wahl-O-Mat. Bei dem Online-Tool kann man 38 Fragen beantworten, gewichten und am Ende erfahren, mit welcher Partei die meisten Übereinstimmungen bestehen. Angeboten wird der Wahl-O-Mat von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), das Design übernimmt die Internetagentur 3pc aus Berlin. Dafür wurde 3pc bereits mehrfach ausgezeichnet.
Als Geschäftsführer Armin Berger 3pc 1995 gründete, war das Internet für viele noch Neuland. Schon damals faszinierte ihn das Netz als demokratischer Raum. Und auch heute setzt sich die Internetagentur für Offenheit des Internets und Freiheit der Information ein, verbindet digitale Technik mit gesellschaftlicher Relevanz und politischer Teilhabe. Im Mittelpunkt digitaler Anwendungen steht der Nutzer. So auch im Wahl-O-Mat.
Das Tool soll Nutzern dabei helfen, eine reflektierte und themenbasierte Wahlentscheidung zu treffen. Hierfür müssen die Inhalte der langen Wahlprogramme kurz und übersichtlich dargestellt und für alle Altersgruppen aufbereitet werden. Wie und warum der Wahl-O-Mat so beliebt wurde, verrät Armin Berger im Interview mit UdL Digital.
Herr Berger, seit 2003 designen Sie im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung den Wahl-O-Mat. Wie kam es zu der Idee? Was wollten Sie mit der Anwendung erreichen? Und welche nächsten Entwicklungsschritte sind geplant?
Der Wahl-O-Mat kommt ursprünglich aus den Niederlanden. 2002 hat die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) die Lizenz erworben, den „StemWijzer“ nach Deutschland zu bringen, und erarbeitete in Kooperation mit der Politikfabrik die erste Wahl-O-Mat-Version. 2003 wurde 3pc mit der konzeptionellen Gestaltung und Weiterentwicklung beauftragt. Eine Aufgabe, bei der wir prototypisch zeigen konnten, was unser Motto der „Entverkomplizierung“ bedeutet: Hunderte Seiten an Wahlprogrammen zusammengezurrt in eine Anwendung, die zu spielen nur wenige Minuten dauert. Statt sich in sozialen Netzwerken oder Talkshows eine Meinung überstülpen zu lassen, belohnt der Wahl-O-Mat das Selber-Denken: Nur wer alle Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet, erhält ein aussagekräftiges Ergebnis. Das reduzierte Design, das im Übrigen an einen Fahrkartenautomaten angelehnt ist, spiegelt genau das wider: Im Fokus steht die These, das Wesentliche geschieht im Kopf des Nutzers. Wir haben uns daher auch bewusst dafür entschieden, keine weiteren Informationen zu den Thesen anzubieten, auch wenn dies eine naheliegende Weiterentwicklung wäre – Entverkomplizierung durch Fokussierung. Gleiches gilt für eine Übertragung des Wahl-O-Mat auf Digitale Assistenten wie bspw. Alexa. Hier gibt es leider noch zu viele Datenschutzrisiken. Als eine der ersten Internetagenturen, die sich nach wie vor dem Ursprungsgedanken des World Wide Web als freien und partizipativen Raum verpflichtet fühlt, wollen wir da nicht mitgehen. Trotzdem sind wir natürlich offen für Verbesserungen. Daher haben wir den Wahl-O-Mat auch kürzlich im Rahmen unseres Engagements für Geflüchtete an der ReDi School von Studierenden evaluieren lassen. Die Außenperspektive der mehrheitlich aus Afghanistan, Irak, Iran und Syrien stammenden Studierenden hat uns dabei ein paar interessante Denkanstöße mitgegeben.
Wie genau funktioniert der Wahl-O-Mat? Wie werden Themen und Fragen erarbeitet?
Kern des Wahl-O-Mats sind 38 Thesen, die der Nutzer mit „stimme zu“, „stimme nicht zu“, „neutral“ oder „überspringen“ beantworten kann. Der Wahl-O-Mat berechnet dann den Grad der Übereinstimmung der Antworten des Nutzers mit denen der Parteien. Die Themenauswahl liegt bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Etwa drei Monate vor der Wahl organisiert die bpb Workshops mit ca. 20 bis 25 Jung- und ErstwählerInnen, die in thematischen Arbeitsgruppen etwa 80 bis 100 Thesen erarbeiten. Basis hierfür sind die Partei- und Wahlprogramme, aus denen die Redakteure Punkte herausfiltern, die unter den Parteien umstritten sind. Unterstützt werden sie dabei von Experten, die ihnen beratend zur Seite stehen. Die Thesen werden den Parteien zur Beantwortung zugeschickt und die Antworten von Politikwissenschaftlern geprüft. Bei Unstimmigkeiten wird die Partei aufgefordert, ihre Antwort zu überarbeiten. In einem zweiten Workshop werden von diesen 80 bis 100 Thesen schließlich die 38 ausgewählt, die die wichtigsten Themen der Wahl aufgreifen, ein breites Themenfeld abdecken und von den Parteien kontrovers beantwortet wurden.
Auf welche Resonanz stoßen Sie mit Ihrem Tool?
Die Nutzerzahlen sprechen für sich: Bei der Bundestagswahl 2002 wurde der Wahl-O-Mat 3.600.000 Mal gespielt, 2013 bereits 13.000.000 Mal – und insgesamt bei allen Wahlen über 50 Millionen Mal. Das klassische und reduzierte Design spricht alle Altersgruppen an: Im Durchschnitt ist etwa ein Drittel der Nutzer unter 30, ein Viertel über 50. In Umfragen, die die Universität Düsseldorf regelmäßig zum Wahl-O-Mat durchführt, geben außerdem zwischen 85 bis 90 Prozent der Nutzer an, dass ihnen der Wahl-O-Mat Spaß macht. Vier bis sechs Prozent werden sogar motiviert, zur Wahl zu gehen, obwohl sie das ursprünglich nicht vorhatten. Bedenkt man, dass 80 bis 90 Prozent der Wahl-O-Mat-Nutzer politisch interessiert und überproportional viele (zwischen fünf und 15 Prozent) Mitglied einer Partei sind, dürfte dieser Prozentsatz innerhalb der Gruppe der noch nicht mobilisierten Wähler sogar deutlich höher liegen.
Welchen Einfluss hat der Wahl-O-Mat Ihrer Ansicht nach auf die Wahlentscheidung der Nutzer? Was sind die Grenzen des Tools in der politischen Willensbildung?
Wie die Zahlen oben zeigen, kann der Wahl-O-Mat sogar Einfluss darauf nehmen, ob ein Nutzer überhaupt zur Wahl geht. Das Wichtigste ist aber: Er regt ihn dazu an, seine eigenen Positionen zu hinterfragen. Etwas überspitzt gesagt: Das beste Wahl-O-Mat-Ergebnis ist eines, das der Nutzer nicht erwartet hat. Wenn er zum Beispiel merkt, dass eine Partei, die er eigentlich unterstützt, in bestimmten Punkten gar nicht seinen Standpunkt wiedergibt. Der Wahl-O-Mat hilft dem Nutzer dabei, eine reflektierte und themenbasierte Wahlentscheidung zu treffen und keine, die ihm die Echokammern von Facebook suggerieren. Trotzdem ist das Wahl-O-Mat-Ergebnis natürlich keine Wahlempfehlung. Vielmehr soll es den Nutzer anregen, sich weiter zu informieren, die Begründungen der Parteien durchzulesen und zu hinterfragen. Und der Wahl-O-Mat erreicht genau das: Rund die Hälfte der Nutzer gibt an, dass sie durch das „Spielen“ des Wahl-O-Mat motiviert sind, sich weiter politisch zu informieren. Sechs bis sieben von zehn Nutzern wollen mit Freunden, Kollegen oder Verwandten über ihr Wahl-O-Mat-Ergebnis sprechen.
Wie schätzen Sie die Nutzung von digitalen Technologien in diesem Wahlkampf ein? Werden sie richtig eingesetzt?
Ich glaube, dass Parteien und Politiker sehr gut wissen, wie sie digitale Technologien einzusetzen haben – von Web-Kampagnen hin zu Sponsored Posts auf Facebook, mit denen genau die Gruppen angesprochen werden, bei denen sich die Parteien die größten Chancen ausrechnen. Letzteres ist möglich, weil Facebook Daten sammelt und uns durch die Schaffung von Filterblasen in gewisser Weise daran hindern will, selbst zu denken. Im Wahlkampf auf Facebook zu verzichten, kann sich natürlich keine Partei leisten. Und der Dialog, für den soziale Medien ja auch genutzt werden, ist extrem wichtig. Aber vielleicht kann man schon früher ansetzen: Weniger Emotionen und gezielte Beeinflussung und mehr neutrale Informationen, die zu interpretieren jedem selbst überlassen wird. Der Erfolg des Wahl-O-Mat zeigt: Der Nutzer will mehr als ein stumpfer Rezipient sein – und das gleiche gilt für die Wähler. Wenn sie nicht das Gefühl haben, ernst genommen zu werden, entsteht Politikverdrossenheit. Auch wenn das Internet längst seine Unschuld verloren hat: Es gibt auch heute noch ein digitales Leben jenseits der Filterblasen. Und das ist es, zu dem wir mit unserer Arbeit für gesellschaftlich relevante Kunden beitragen wollen: Das Internet als demokratischen Raum zu erhalten bzw. wiederzubeleben.
Die geringe Wahlbeteiligung von jungen Erwachsenen ist ein großes Problem. Der Wahl-O-Mat ist hier erfolgreich: Ein Drittel der Nutzer sind jung. Worauf kommt es an, um die Digital Natives zu erreichen?
Bei der Ansprache der Digital Natives wird immer wieder auf pauschale Urteile und entsprechende Rezepte zurückgegriffen: Junge Leute hätten eine nur sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne, ohne Entertainment und Multimedialität gehe gar nichts und politikverdrossen seien sie sowieso alle. Der Erfolg des Wahl-O-Mat widerspricht diesen Vorurteilen: Er kommt völlig ohne Bilder oder Videos aus, man muss sich konzentrieren und politisch Stellung beziehen. Die aktive und selbstbestimmte Nutzung von Informationen im Netz kommt offensichtlich nicht aus der Mode – egal, wie sehr sich bestimmte Entwicklungen wie Fake News und ein immer stärker personalisierter Wahlkampf dem entgegenstellen. In Bezug auf die Wahlbeteiligung junger Menschen könnte das heißen: Will man sie erreichen, muss man ihnen Möglichkeiten der Partizipation bieten und ihre Meinung ernst nehmen. Und außerdem: Selbst wenn sie zu den Anfängen des World Wide Web noch zu jung waren: Auch die Digital Natives wünschen sich ein Netz, in dem Informationen ungefiltert fließen und Selbstdenken belohnt wird.
Zuletzt geändert am 24. August 2017.