BASECAMP NewIn Politics: Regieren in der Dauerkrise – die Fortschrittskoalition nach einem Jahr
„Mehr Fortschritt wagen“ – diesen Titel gab die Ampel-Koalition ihrem Regierungsprojekt vor etwa einem Jahr. Die Aufbruchsstimmung war jedoch schnell passé: Der Krieg kam, Pandemie und Klimakrise blieben. Über das Regieren in der Dauerkrise und den Koalitionsfrieden sprachen im BASECAMP Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Dorothee Martin (SPD), Tobias Lindner (B90/Die Grünen) und Gordon Repinski (ThePioneer) gemeinsam mit unseren Partnern von polisphere.
Zum Abschluss der BASECAMP Themenwoche war am Freitagabend die Politik zu Gast in der Berliner Mittelstraße. Auch viel Publikum fand sich vor Ort ein und verfolgte gespannt die Veranstaltung zum Zustand der Regierungskoalition. Philippe Gröschel, Director Government Relations von Telefónica, stimmte zu Beginn auf die aktuellen Transformationen und Herausforderungen ein, die die Politik auch in Zukunft noch beschäftigen werden. Zugleich begrüßte er unsere Freunde von polisphere, die das Event mitorganisiert hatten.
Rückblick auf 311 Tage Ampel-Koalition
Philipp Sälhoff, Geschäftsführer von polisphere, erinnerte an die gemeinsame Veranstaltung in der Themenwoche vor fast einem Jahr, während noch die Koalitionsverhandlungen liefen. Im Vergleich zu damals gebe es mittlerweile völlig andere politische Problematiken, über die wir sprechen müssen – unter anderem den Ampelfrieden.
Anschließend präsentierte Gregor Bauer, Leiter Research bei polisphere, einige Zahlen und Fakten zur Ampelregierung: z.B. zur veränderten Zusammensetzung des Bundestags, zu den Social-Media-Aktivitäten der MdB, zur Arbeit der Ministerien oder zur Wahrnehmung des Bundeskanzlers in der Bevölkerung. Speziell die Beliebtheit von Olaf Scholz habe deutlich nachgelassen. Zudem fallen die Wahlergebnisse der drei Regierungsparteien seit Dezember 2021 sehr durchwachsen aus, was auch auf die Stimmung in der Ampel-Koalition durchschlägt.
Die Diskussion zwischen den anwesenden Ampel-Vertreter:innen eröffnete Mareile Ihde, Leiterin Digitale Kommunikation bei polisphere, dann auch mit der Frage, inwiefern sich die Atmosphäre in der Koalition seit dem Herbst 2021 verändert habe. Tobias Lindner, MdB der Grünen und Staatsminister im Auswärtigen Amt, wies darauf hin, dass man sich ja bereits in den Verhandlungen nicht immer über alles einig war und es hart zur Sache ging: „Für mich sind Koalitionsverhandlungen eher eine Art Boot-Camp, wo man guckt, ob man miteinander unter Stress zurechtkommt.“ Und man dürfe derzeit auch nicht vergessen, dass es nach dem schwierigen ersten Jahr durchaus eine Bilanz von bereits umgesetzten Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag gebe.
Wie drei sehr verschiedene Parteien zusammenfinden konnten
Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Abgeordnete der FDP und Vorsitzende des Verteidigungsausschuss im Bundestag, gab zu, dass es aufgrund des gegeneinander gerichteten Wahlkampfs bei einigen Beteiligen Antipathien gegeben habe. Sie betonte allerdings auch die Gemeinsamkeiten aus der parlamentarischen Arbeit und dass bei ihr keine Berührungsängste mit SPD und Grünen da gewesen seien.
Nach einem kleinen Ausflug in die kulinarische Dimension der damaligen Verhandlungen ergänzte Dorothee Martin, die verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, dass den drei Parteien vor einem Jahr etwas für den Politikbetrieb Ungewöhnliches gelungen sei: „Wir haben einfach nicht geplaudert, sondern vertrauensvoll diese Koalitionsverhandlungen geführt.“ Sie betonte auch, dass SPD, Grüne und FDP als unterschiedliche Parteien sich öffentlich ebenso unterschiedlich zeigen dürften. Das sei Teil des politischen Spiels. Aber: „Hinter den Kulissen wird es eigentlich nie so heiß gegessen, wie es öffentlich gekocht wird.“ Eine neue Qualität sei zudem, dass alle drei Regierungsparteien angesichts der aktuellen Lage bereit sind, bisherige Positionen zu überdenken oder aufzugeben.
Der Konflikt zwischen Robert Habeck und Christian Lindner
Den Rückblick auf die Ampel-Verhandlungen schloss Gordon Repinski, Vize-Chefredakteur von ThePioneer, mit der Feststellung ab, dass das Zusammenkommen der drei thematisch sehr unterschiedlichen Parteien eine große Leistung gewesen sei – indem sie damals das einzig mögliche getan hätten: nämlich es mit totaler Vertraulichkeit zu versuchen.
„Jetzt ein Jahr später sind wir an einem Punkt, wo mehrere Krisen dazwischen gekommen sind.“
Dabei hätten sich Gewinner und Verlierer heraus kristallisiert und das wirke sich natürlich auch auf die Stimmung in der Koalition aus. „Bei den Grünen merkt man das durch eine Kompromissfähigkeit und bei der FDP durch eine teilweise größere Sensibilität“, so Repinski. Die Ampelparteien müssten sich jetzt entscheiden, ob sie zu dem Spirit der Anfangszeit zurückfinden oder ob sie sich im Klein-Klein der momentanen Auseinandersetzungen verlieren wollen. Die meisten der Akteure verstünden sich ja gut, aber bei Führungsfiguren wie Robert Habeck und Christian Lindner sei das nicht der Fall – und das sei problematisch.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann wollte das so nicht stehen lassen und verwies auf das Bedürfnis der Medien nach einer guten Story, die sie im angeblichen Konflikt zwischen Habeck und Lindner finden würden. Die Konstellation zwischen den beiden Ministern sei aber komplexer, als es medial dargestellt werde. Sie plädierte außerdem für nicht-öffentliches Nachjustieren innerhalb der Koalition, denn:
„Das Schicksal hat uns zusammengebracht, die Situation ist brutal ernst.“
Stehen wir vor einer Demokratiekrise?
Im weiteren Verlauf der Diskussion merkte Tobias Lindner an, dass bei einer neuen Regierungskoalition das erste Jahr immer schwierig für die beteiligten Parteien ist und die die Ampel da keine Ausnahme darstelle. Gordon Repinski gab zudem zu bedenken, dass es zur aktuellen Regierung derzeit keine realistische Alternative gebe.
Auf die Frage von Moderatorin Mareile Ihde, ob wir momentan eine Demokratiekrise erleben, gab Lindner zu, dass ihn vor allem gezielte Kampagnen – wie vor kurzem gegen Außenministerin Annalena Baerbock – umtreiben. Politik und Öffentlichkeit sollten in diesem Punkt aufmerksamer sein. Strack-Zimmermann hob hervor, dass die Kommunikation über Social Media-Kanäle zwar eine große Chance biete, Menschen zu erreichen, zugleich nehme aber „die Zahl der Abgedrehten drastisch zu“. Sie sorgt sich deshalb um den politischen Nachwuchs auf kommunaler oder Landesebene, der von den Bedrohungen abgeschreckt werden könne.
Dorothee Martin verwies derweil auf Kevin Kühnerts derzeitigen Rückzug von Twitter und seine Begründung, dass der Diskurs auf dem Kurznachrichtendienst politische Entscheidungen beeinflussen könne, obwohl er nicht den gesellschaftlichen Realitäten entspreche. Mit Blick auf die Rolle der Medien stellte Gordon Repinski fest, dass der Journalismus in den sozialen Medien mittlerweile eher Teil der ausgleichenden statt der skandalisierenden Stimmen ist. Die Skandalisierungen würden teilweise jedoch auch von der Politik selbst betrieben, um die konkurrierenden Parteien unter Druck zu setzen. Zudem plädierte er mit Blick auf die Demokratie dafür, dass der Journalismus noch stärker die positiven Geschichten finden und erzählen sollte.
Persönliche Erfolge und viel Harmonie
Bei der Schlussfrage an die Podiumsteilnehmer:innen nach einem persönlichen Erfolg der Ampelregierung im ersten Jahr zeigten sich die sachpolitischen Interessen der vier Diskutanten: Während Martin als Verkehrspolitikerin das für 2023 angekündigte 49-Euro-Ticket anführte und Lindner die verbesserte Zusammenarbeit der Ministerien in der Außen- und Sicherheitspolitik hervorhob, wählte Strack-Zimmermann als ganz persönliches Ereignis ihre Reise mit Anton Hofreiter (Grüne) und Michael Roth (SPD) in die Ukraine am 12. April diesen Jahres. Aus der Sicht des Journalisten Repinski wäre vor allem die noch nicht beschlossene, aber lang überfällige Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Bundestages ein echter Erfolg für die Ampel.
Zum Abschluss der Veranstaltung stellte auch das Publikum noch einige Fragen, unter anderem zur Situation im Iran und zu gutem Regieren. Bei der Frage, wie die Wahlbeteiligung der Bürger:innen gesteigert werden könnte, wurden als Ansätze vor allem das Erklären von Politik, eine bessere Repräsentation und Mobilisierung der Wählerschaft, aber auch die Förderung von politischen Engagement diskutiert.
Hierbei war, wie bereits in der Diskussionsrunde davor, bei den Protagonisten auf der Bühne eigentlich kein Dissens zu spüren, vielmehr herrschten viel Lockerheit und Harmonie vor. Es wurde sogar über das Ziel gesprochen, die Koalition über die aktuelle Legislaturperiode hinaus fortzuführen. Der thematisierte Ampel-Frieden war an diesem Abend im BASECAMP also durchaus zu spüren – was für den Gesamtzustand der Koalition immerhin hoffen lässt.
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