BASECAMP FishBowl: Brauchen wir eine Gebrauchs­anweisung für TikTok, Insta und Co. zur Stärkung unserer Demokratie?

Foto: Henrik Andree
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Veröffentlicht am 27.06.2024

Ein großer Teil der 16- bis 24-jährigen Wähler:innen hat sich bei der Europawahl von den etablierten Parteien abgewandt und stattdessen kleineren Parteien oder der AfD ihre Stimme gegeben.

Expert:innen bringen dieses Wahlverhalten mit der Unzufriedenheit gegenüber der Regierungspolitik sowie der starken Präsenz einzelner Parteien auf Tik Tok und Instagram, den zentralen Leitmedien der Jugend, in Verbindung. Die kürzlich erschienene SINUS -Jugendstudie 2024 zeigt zudem: Die Vielzahl von Krisen und Problemen wie Kriege, Energieknappheit, Inflation oder Klimawandel stimmt die Jugendlichen in ihrem Allgemeinbefinden ernster und besorgter denn je.

Während die einen den vermeintlichen „Rechtsruck“ der Jugend mit Aussagen wie „erschreckend“ oder „traurig“ kommentierten, lud das BASECAMP von o2 Telefónica unter dem Motto „Nach der Wahl ist vor der Wahl: Brauchen wir eine Gebrauchsanweisung für TikTok, Insta und Co, um unsere Demokratie zu stärken?“ in Berlin-Mitte gemeinsam mit dem Jugendengagement-Programm WAKE UP! zur Fish-Bowl-Diskussion mit Politiker:innen ein. Die Vielfalt der Themen, mit denen sich junge Menschen aktuell auseinandersetzen, unterstreicht die Notwendigkeit, jungen Stimmen in politischen und gesellschaftlichen Debatten mehr Raum zu geben.

Größte Sorge der Jugend ist Krieg

Deshalb fragte Moderator Jan Schipmann, bekannt durch die „funk“-Internetsendung „Die da Oben“ und seinem Podcast „Absolute Mehrheit“, die Jugendlichen gleich zu Beginn nach den für sie wichtigsten Themen im Alltag.

Bei der Slido-Abstimmung landete „Krieg“ mit deutlichem Abstand vor den anderen vorgegebenen Themen wie „Klima“, „Migration“, „Wohnungsnot“ und „Wirtschaft“ auf dem ersten Platz.

Wahlergebnisse bei der Europawahl sind ein Schlag ins Gesicht für etablierte Parteien

Heidi Reichinnek (Die Linke) | Foto Henrik Andree

Das Ergebnis der Linken bei der Europawahl (2,7 Prozent) sei ein Schlag ins Gesicht gewesen, sagt die gebürtige Merseburgerin Heidi Reichinnek, Bundestagsabgeordnete aus Osnabrück, Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag und Mitglied der Kinderkommission des Parlaments, die viel auf TikTok und anderen sozialen Medien unterwegs ist und beruflich aus der Kinder- und Jugendhilfe kommt.
Die Linke habe wohl auf die falschen Themen gesetzt.

Zu dieser Einschätzung für seine eigene Partei kam auch Fabian Funke von der SPD (13,9 Prozent). „Natürlich will jeder Frieden“, sagte der Abgeordnete aus dem Wahlkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Aber Verteilungsgerechtigkeit und Daseinsvorsorge, die bei allen abgestimmten Themen Teil des Problems seien – ob beim Klimaschutz, wo der CO2-Fußabdruck der Wohlhabenden viel größer sei als der Durchschnitt, oder bei der Wohnungsnot – müssten wieder stärker ins Zentrum der SPD-Politik rücken.

Muhanad Al-Halak (FDP) | Foto: Henrik Andree

Der FDP-Abgeordnete aus Deggendorf im Bayerischen Wald, Muhanad Al-Halak (5,2%), der mit elf Jahren als Kriegsflüchtling nach Deutschland kam, ärgerte sich vor allem darüber, dass nach der Wahl alle Parteien nur „mit dem Finger auf die anderen zeigen“ und die demokratischen Parteien in Regierung und Opposition zu wenig konstruktiv zusammenarbeiten.

Dadurch sei der AfD zu viel Raum gegeben worden, das Thema Migration hochzuspielen „Ich bin nicht so angegangen worden“, wie die AfD jetzt mit Migranten umgehe, sagte al-Halak. „Ich hatte die Chance auf Entwicklung und Integration und deshalb versuche ich, auf TikTok dagegen zu halten.“

Stärkere Präsenz demokratischer Parteien auf Tik Tok als Lösung?

Dass eine stärkere Präsenz der demokratischen Parteien auf TikTok, Instagram und anderen Social-Media-Kanälen mit jugendlichem Publikum dringend notwendig wäre, zeigt die zweite Slido-Umfrage. Gefragt wurde nach den Parteien, deren Inhalte den Jugendlichen im Saal in den sozialen Medien am meisten auffallen würden. Hier lag die AfD mit 64 Prozent weit vor allen anderen Parteien, die Jugendliche im Internet antreffen. Die FDP landete dabei sogar nur bei 5 Prozent.

Die drei Vertreter:innen aus der Politik sind sich einig, dass die Internetpräsenz ihrer Parteien dringend ausgebaut werden muss, auch wenn dies noch nicht in allen Parteien in seiner Bedeutung erkannt wurde. Al-Halak erhielt noch bei seinem Einzug in den Bundestag von einem führenden Parteimitglied den Rat, seinen TikTok-Account, den er sich zu Corona-Zeiten zugelegt hatte, besser abzuschalten.

Foto: Henrik Andree

Jugendliche mit Desinformation konfrontiert

Die Gefahr, Fake News zu konsumieren, ist laut Sinus Studie derzeit vielen Jugendlichen bewusst, aktiv recherchierten die meisten aber nicht. Dies bestätigte auch die dritte Abstimmung, zu der Schipmann im BASECAMP aufrief. So gut wie alle Jugendlichen hatten schon Posts als „Fake“ identifiziert.

Jan Schipmann | Foto: Henrik Andree

Diese könne man auf der Plattform melden, auch bei Instagram oder TikTok, gab Schipmann als Rat. Außerdem könne man sein TikTok-Profil auf „null“ stellen, wenn man zu viele ungewollte Videos angezeigt bekomme oder auf Instagram einstellen, dass man auch Posts von politischen Accounts sehen wolle, denen man nicht selbst folge.

So könne man es vermeiden, dass man immer nur die gleichen Infos zugespielt bekommt. Einige der Tipps überraschten sogar Social-Media-Profis wie Reichinnek. Schipmann wies auch auf die Siegel der Faktenchecker-Organisationen hin. Al-Halak warf ein, dass nachträgliche Faktenchecks bei Sendungen oder Korrekturen bei Artikeln kaum jemand zur Kenntnis nehme. „Die Faktenchecks müssten daher eigentlich besser ´live´ sein“, erklärte Schipmann.

Junge Menschen sprechen über Krieg, Diskriminierung und ihre Sorgen

Foto: BASECAMP

Der Krieg in Gaza war die erste Frage eines Jugendlichen, nachdem der freie Platz am Tisch besetzt werden konnte. Der junge Mann wollte wissen, warum trotz der vielen Toten in Gaza weiterhin deutsche Waffen an Israel geliefert würden. Die deutsche Mahnung zum Frieden sei doch nur gespielt. Funke, Al-Halak und Reichinnek verwiesen auf den Beginn des Konflikts mit dem Angriff der Hamas, kritisierten aber auch das Vorgehen der Regierung Benjamin Netanjahus. „Voraussetzung für einen Frieden in Gaza ist, dass es den Menschen in Gaza besser geht und dass die Israelis keine Angst mehr vor den Waffen der Hamas haben müssen“, sagte Funke. „Es braucht den Willen beider Seiten.“

Mut fasste auch eine junge Frau, die auf dem freien Stuhl Platz nahm. Sie wünschte sich mehr politische Bildung in der Schule und mehr Aktivität aller Parteien in den sozialen Medien. Als Kind 2014 nach Deutschland gekommen, fühle sie sich heute in der Schule voll akzeptiert, nicht aber von den Älteren in der Gesellschaft. Wenn es Verbrechen von Migrant:innen gebe, würden diese aufgebauscht und alle mit Migrationshintergrund „in die gleiche Schublade gesteckt“. Dabei brauche Deutschland dringend junge Menschen wie sie als Fachkräfte der Zukunft. Gleichzeitig würden viele Migrant:innen aus ihrem Umfeld sich seltsamerweise für antidemokratische Parteien wie die AfD entscheiden, obwohl diese ihnen ja eigentlich schaden würden. Einfach nur, deshalb, weil in den sozialen Medien vor allem ihre Inhalte auftauchen und aufgeschnappt werden, so die junge Frau.

Nicht alle Jugendlichen trauten sich an den Tisch. Einige von ihnen warteten das Ende der Veranstaltung ab und hatten im persönlichen Gespräch mit den Politiker:innen die Gelegenheit, ihre Fragen zu stellen. Eine Gruppe von Mädchen wollte vor allem über den § 218 StGB (Abtreibungsgesetz) sprechen. Andere wollten von den Politiker:innen wissen, warum einige in der Politik Narrative rechter Parteien übernehmen, um Wähler:innen zu gewinnen.

Foto: Henrik Andree

Die Europawahl hat verdeutlicht, dass die etablierten Parteien den Anschluss an die junge Generation verlieren, wenn sie deren Sorgen und Mediengewohnheiten nicht ernst nehmen. Die politische Partizipation und das Verständnis für Demokratie müssen gefördert werden, um Desinformation entgegenzuwirken und die Jugendlichen besser zu erreichen. Dies ist nicht nur eine Herausforderung, sondern eine notwendige Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft.
Denn viele Entscheidungen, die heute in der Politik getroffen würden, wirken sich erst in der Zukunft aus und beträfen künftig daher vor allem die heutige Jugend.

Angebote und Workshops zur Förderung der Medienkompetenz bei WAKE UP

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