Data Driven HR: Datenanalyse legt versteckte Talente frei (Interview)
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In Zeiten, in denen guter Nachwuchs immer rarer wird, profitieren nicht nur Unternehmen von neuen Recruiting-Technologien. Sondern auch die Kandidaten, sagt Marlon Litz-Rosenzweig, CEO des Hamburger Start-Ups Talerio. Seine Lösung für den War on Talent und das optimale Matching von Skills ist: daten-getriebene HR. Die Anwendung von Datenanalysen ist der nächste große Trend in der Personalwirtschaft und soll auch den Mitarbeitern mehr Befriedigung in ihren Jobs verschaffen, weil sie ihre Fähigkeiten damit optimal nutzen können.
Data Driven Human Ressources oder People Analytics sind Schlagwörter, die Headhunter und Recruiter immer öfter verwenden, weil sie ihr Arbeitsfeld momentan komplett umkrempeln. Denn während sie bisher ihre Arbeit vor allem am Telefon erledigten und Kandidaten durch endlose Recherchen bei Xing oder LinkedIn identifizierten, finden Software-Lösungen heute oft bessere Resultate, weil sie anders vorgehen und dabei die wahren Talente des Personals erfassen. Ohne sich dabei von Lebenslauf-Kosmetik oder Schauspielereien beim Vorstellungsgespräch blenden zu lassen. Wie das funktioniert und wie dabei die Privatsphäre durch Anonymisierung geschützt wird, erklärt uns heute Marlon Litz-Rosenzweig.
Herr Litz-Rosenzweig, Recruiting lief bisher oft so: Ein Unternehmen schaltet eine Job-Anzeige – in einer Zeitung, auf einer Online-Plattform – Menschen bewerben sich und das Unternehmen, wählt die Person, die vom Auftreten und vom Lebenslauf her am besten passt. Was ist das Problem dabei? Warum wollen Sie das ändern?
Marlon Litz-Rosenzweig: Es gibt eine ganze Reihe von Problemen, die man mit den alten Recruiting-Strategien nicht mehr gut genug lösen kann. Eines ist, dass viele Skills am Arbeitsplatz immer kürzere Halbwertszeiten haben. Das bedeutet: Selbst wenn jemand eine Programmiersprache beherrscht, bestimmte Management-Skills hat oder spezifisches Wissen über gewisse Märkte –solche Fähigkeiten veralten heute relativ schnell.
Das führt dazu, dass Firmen heute viel regelmäßiger neue Talente brauchen als früher. Gleichzeitig wird das Angebot an gut ausgebildeten Nachwuchskräften in vielen Branchen und Industrien immer dünner – und der Wettbewerb um Talente also immer dramatischer. Wir glauben, dass das Standardmodell – ich schaue auf die Noten, auf den Studiengang und auf die Uni, auf die ein Kandidat gegangen ist und dann weiß ich, was der kann – zwar ganz gut funktioniert, aber nicht mehr ausreicht.
Warum?
Marlon Litz-Rosenzweig: Man kann das ganz gut mit einer Analogie aus der Öl-Industrie erklären. Wenn das Öl aus den einfach zugänglichen oberen Regionen abgepumpt ist, muss man einen Weg finden, zu neuen Quellen vorzustoßen. Auf das Recruiting übertragen heißt das, man kann und sollte für die offene Managementstelle vielleicht nicht länger immer nur den BWLer von der renommierten Uni Mannheim in die Auswahl nehmen.
Vielleicht muss es nicht einmal ein BWLer sein! Wenn es zum Beispiel darum geht, dass jemand hochanalytisch denken kann, dann kann das vielleicht auch ein Philosoph sehr gut. Oder jemand der Geschichte studiert hat. Viel relevanter als ein Abschluss ist, dass diejenige oder derjenige die richtigen Skills mitbringt. Wenn man das begreift, erschließen sich plötzlich ganz neue Quellen von Job-Kandidaten, aus denen man schöpfen kann.
Die Frage ist, wie genau entdeckt man denn die Leute, die Historiker sind, Philosophen oder meinetwegen Tischlermeisterin – die trotzdem genau auf die Managementstelle passen?
Marlon Litz-Rosenzweig: Man entdeckt sie, indem man sich mal von der Idee des Lebenslaufs löst. Es gibt unglaublich viele Skills, die lassen sich mit dem Lebenslauf sowieso nicht abbilden. Und wer überprüft den eigentlich – davon mal abgesehen. Wir glauben, dass man mit Hilfe von Daten und Technologie ein sehr viel genaueres Bild einer Person bekommt.
Und das hilft nicht nur den Unternehmen, die sehr viel exakter die Person finden können, die zu ihnen passt. Es hilft auch den Kandidaten, die sich über unsere Plattform vermitteln lassen. Sie werden nicht länger von hunderten generischen Anfragen auf Xing oder LinkedIn überschwemmt, sondern bekommen einige wenige Angebote, die dafür aber viel genauer zu dem passen, was sie tatsächlich aktuell können.
Wie genau funktioniert das?
Marlon Litz-Rosenzweig: Man durchläuft auf unserer Website ein Assessment-Center, das wir zusammen mit Forschern der ETH Zürich und der Humboldt-Universität in Berlin entwickelt haben. Wir versuchen, damit genau die Fähigkeiten zu messen, die im Lebenslauf nicht zu sehen sind, die aber für Produktivität am Arbeitsplatz sehr wichtig sind: Intelligenz, räumliches Denken, Kommunikationsstärke, Sprachverständnis. Aber auch verhaltensökonomische Daten.
Das heißt: Wie schnell gibt jemand auf? Wie kreativ ist das Lösungsverhalten? Ist jemand nicht nur smart, sondern auch street-smart. Das heißt, pro Kandidat werden etwa 5.000 verschiedene Datenpunkte erfasst. Wir interpretieren die aber gar nicht alle. Das heißt, wir maßen uns nicht an zu sagen: Es ist gut, wenn jemand diese Frage schnell beantwortet. Oder langsam. Sondern wir verlassen uns da lieber auf ein sogenanntes Benchmarking-System.
Das bedeutet?
Marlon Litz-Rosenzweig: Wenn ein Unternehmen jemandem sucht, der sehr analytisch denkt und arbeitet und wir wissen über unsere Datenbank, dass diese oder jene Person bei analytischen Jobs sehr gut gearbeitet und gute Bewertungen bekommen hat – dann können wir nach sogenannten statistische Zwillingen suchen. Das heißt, wenn wir wissen, dass Person A sehr analytisch ist und über ein bestimmtes Datenset verfügt. Dann können wir eine andere Person in der Datenbank finden, deren Datenset diesem sehr ähnlich ist.
Das klingt aus der Datenschutzperspektive ziemlich gruselig.
Marlon Litz-Rosenzweig: Ist es aber nicht, denn all unsere Datensätze sind komplett anonymisiert. Und es ist nicht nur kein Name verknüpft, das Datenset inkludiert auch keinerlei Daten zu Geschlecht, Rasse, Religion, Herkunft, Universität, Noten – das lassen wir alles komplett außen vor. Das bedeutet, das Einzige was zählt, ist das, was derjenige wirklich kann. Das ist ein Riesenvorteil zu bisherigen Recruiting-Verfahren!
Weil so keine Klischees und Vorteile in die Personalentscheidung reinspielen?
Marlon Litz-Rosenzweig: Richtig. So spielt es keine Rolle, ob jemand aus Hamburg-Eppendorf kommt oder aus München-Hasenbergl. Oder ob der Professorenpapa bei dem einen nochmal über die Bewerbung geschaut hat und bei dem anderen aber nicht. Das Geschlecht ist egal, die Hautfarbe. So schaffen es Leute in Vorstellungsgespräche, die es sonst vielleicht manchmal schwerer hätten, obwohl sie genau die Richtigen sind. Und Unternehmen entdecken dort Talente, wo sie vielleicht sonst nicht gut genug hingeschaut haben. Rohdiamanten sozusagen.
Nun könnte man all das ja auch noch ein Stück weiterdenken. Werden solche Tools auch schon innerhalb von Unternehmen eingesetzt? Also nicht nur um jemanden Neues einzustellen, sondern um zum Beispiel um Teams zusammenzustellen?
Marlon Litz-Rosenzweig: Wir bieten so etwas schon an. Gerade in wirklich großen Unternehmen, ist es ja relativ schwierig zu wissen, wer eigentlich was genau kann. Das weiß dann manchmal schon der Abteilungsleiter nicht mehr sehr gut. Und zwischen den Abteilungen ist die Kommunikation oft noch schwieriger. Wir bieten unsere Technologie als Lösung an.
Wenn zum Beipiel eine Person innerhalb eines Unternehmens sagt: Okay, ich brauche hier jetzt jemanden, der sich mit Schrauben auskennt und koreanisch spricht, aber keine Zeit hat an den E-Mail-Verteiler der ganzen Firma zu schreiben, dann kann diese Person ihr Gesuch in die sogenannte Workcloud schieben, in der die Datensätze aller Mitarbeiter liegen. Die Workcloud weiß, was die Leute innerhalb des Unternehmens können und benachrichtigt dann die richtigen Personen darüber, dass jemand nach ihren Skills sucht.
Und wenn der koreanische Schraubenexperte aber gerade anderes zu tun hat?
Marlon Litz-Rosenzweig: Dann meldet er sich eben nicht und bleibt anonym im Datensatz. Sich zu melden ist völlig freiwillig. Es entsteht einem kein Nachteil, wenn man es nicht tut. Die andere mögliche Anwendung innerhalb von Unternehmen ist die tatsächliche Umorganisation der eigenen Mitarbeiter.
Was heißt das?
Marlon Litz-Rosenzweig: Gerade Mittelständler in ländlichen Regionen haben es teilweise wahnsinnnig schwer, Leute für sich zu gewinnen. Umso wertvoller ist es, wenn man genau weiß, wer was kann – wer also wo am besten aufgehoben wäre. Dann kann man sich wesentlich humankapitaleffizienter aufstellen.
Was bedeutet das konkret?
Marlon Litz-Rosenzweig: Das heißt, wenn die Mitarbeiter im Unternehmen das Assessment durchlaufen haben, entdeckt man vielleicht: Mensch, der Analyst aus der einen Abteilung wäre vielleicht noch viel besser im Vertrieb eingesetzt. Denn sein Datensatz ähnelt sehr dem vom besten Vertriebler, der dort arbeitet. Das Ergebnis bleibt anonym, wenn der Analyst das will. Aber wenn nicht, kann man zum Beispiel sagen: Mach doch vielleicht einfach mal zwei Wochen einen Ausflug dahin, schau dir das an und vielleicht haben die Daten ja recht. Vielleicht bist du da viel besser aufgehoben. Das kann auch für den Mitarbeiter eine Riesenchance sein, denn das ist das Spannende: Häufig wissen die Leute selbst gar nicht so genau, was sie gut können. Die Daten können da manchmal ganz versteckte Talente offenlegen.