Desinformation und Radikalisierung im Netz: Interview mit Anna Metzentin (Journalistin)
Die Gefahren von Desinformation und Radikalisierung im Internet gelten seit längerem als eine große gesellschaftliche Herausforderung. In unserer Interview-Reihe möchten wir das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Nach den Gesprächen mit Rita Schwarzelühr-Sutter (MdB & Parlamentarische Staatssekretärin) und Sabine Frank (YouTube) haben wir die Journalistin Anna Metzentin, die für verschiedene Redaktionen der ARD tätig ist, zur Rolle der sozialen Medien und speziell von TikTok befragt.
Die Radikalisierung auf Social-Media-Kanälen und Messenger-Plattformen wurde mittlerweile als relevantes gesellschaftliches Problem erkannt. Doch wo fängt die Radikalisierung aus Ihrer Sicht eigentlich an? Sind digitale Plattformen ein Spiegel bereits bestehender Meinungen oder führen sie überhaupt erst dazu, dass sich Menschen vernetzen und radikalisieren?
Sowohl als auch. Radikale Aussagen in Beiträgen sind häufig ein Ventil derer, die bereits radikalisiert sind. Die finden auf den Plattformen eine Bühne, um ihre Ansichten einer breiten Öffentlichkeit mitzuteilen. Immer häufiger beobachte ich aber auch, dass in Kommentarspalten sehr subtile Formen der Radikalisierung stattfinden.
Das passiert dann nicht durch plumpe Hassbotschaften, sondern indem Zweifel an eigentlich objektiv logischen Inhalten gesät werden. Etwa, wenn unter Beiträgen öffentlich-rechtlicher Accounts kommentiert wird, dass diese Form der Berichterstattung ja „klar“ war.
Diese erstmal harmlos klingenden Sticheleien finden systematisch statt und zielen darauf ab, auch nicht-Radikalisierte zweifeln zu lassen. Und sie sind der Nährboden für eine verzerrte Stimmung in den Kommentarspalten. Sie kreieren dort eine Art Parallelgesellschaft, die mit den tatsächlichen Konsument:innen der Videos wenig gemein hat. User:innen ohne radikale Agenda trauen sich oft gar nicht mehr zu kommentieren – egal, ob negativ oder positiv.
Da Sie sich als Journalistin besonders mit TikTok beschäftigen: Welche Rolle spielt Desinformation dort bisher? Und kann diese Plattform aus Ihrer Sicht ebenfalls zur Radikalisierung von Menschen beitragen, so wie das z.B. bei YouTube-Videos oder manchen Telegram-Gruppen der Fall ist?
TikTok ist aktuell die Plattform mit dem größten Wachstum. Waren dort noch vor einigen Jahren hauptsächlich Teenager aktiv, sind dort heute verschiedenste Altersgruppen und soziale Strukturen vertreten. Dabei gilt: Je größer die Plattform ist, desto größer ist auch die Bühne für radikale Inhalte. Aktuell ist die Ausspielung von Inhalten auf allen Social Media-Plattformen, aber vor allem auf TikTok, sehr intransparent. Ich sehe die Betreibenden aller Plattformen in der Verantwortung, die Verbreitung nicht-verifizierter Inhalte zu regulieren und die User:innen vor Desinformation zu schützen. Momentan fehlt es da aber an einer verbindlichen gesetzlichen Ausarbeitung, wie beispielsweise Algorithmen in Deutschland Inhalte an bestimmte Zielgruppen ausspielen dürfen.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wirkt sich als emotional aufwühlendes Thema auch auf die Kommunikation in Social-Media-Kanälen aus. Was unterscheidet TikTok bei der Verbreitung von Desinformation von anderen Plattformen?
Videos auf TikTok leben von Überraschung und Entertainment. Das bietet für Themen aller Art einen enormen Spielplatz fürs digitale Austoben in der Produktion. Zwischen Tanzvideos, biografischen Erzählungen über den ersten Besuch beim Frauenarzt, Kochvideos oder der journalistischen Einordnung von Nachrichten stellen explizite und blutige Szenen aus Kriegsgebieten natürlich einen enormen Hingucker dar. Klar, krasse Bilder haben eine enorme Sogwirkung. Ich halte es für sehr gefährlich, User:innen so unvorbereitet und ohne Triggerwarnung auf Bilder von Leichen und Verletzungen scrollen zu lassen. Ich sehe da auch die Uploader in der Verantwortung, mit ihren Videos nicht nur zu schockieren, sondern diese auch inhaltlich einzuordnen. Sonst wird Krieg schnell zum Kino und das darf nicht passieren.
Wie wirkt sich die starke Verbreitung von Desinformation generell auf die Arbeit von Journalist:innen aus? Vor welchen Herausforderungen stehen diese in der heutigen Zeit und wie gehen Sie persönlich vor, wenn es darum geht Nachrichten, die gezeigt werden auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen?
Für unsere Berichterstattung in Krisenzeiten gelten die gleichen qualitativen Standards wie bei vermeintlich soften Themen. Innerhalb der ARD habe ich das große Glück, auf ein breites Netzwerk an Korrespondent:innen, Reporter:innen, Agenturmeldungen und Archive zurückgreifen und Informationen so auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen zu können. Für mich ist es dabei wichtig, diese Quellen auch transparent zu benennen und meinen Weg der Recherche auf diese Weise nachvollziehbar zu machen.
Neben der Berichterstattung zählt auch das Fact-Checking immer mehr zu unseren journalistischen Aufgaben. Viele öffentlich-rechtliche Kanäle recherchieren mittlerweile virale Videos nach und überprüfen sie auf ihren Wahrheitsgehalt. Dabei geht es darum, das Internet ein Stück weit aufzuräumen und den User:innen Handwerkszeug in Sachen Medienkompetenz zu vermitteln.
Egal, ob jung oder alt: In meinem Alltag sehe ich hier in allen Altersgruppen enormen Nachholbedarf. Viele glauben, dass hohe Viewzahlen und viele Kommentare eine sachliche Richtigkeit attestieren, doch das ist schlichtweg falsch. Gerade im direkten Austausch mit unserem Publikum erlebe ich immer noch, dass viele nicht wissen, dass hinter Fake News große wirtschaftliche Interessen und wahnsinnig viel Geld steckt. Das Problem ist: Haben sich Desinformationen erstmal verbreitet, erreichen die sachlich richtigen Einordnungen danach häufig nur noch einen Bruchteil der Leute.
Sind Sie selbst schon mal auf falsche Informationen reingefallen und haben diese verbreitet? Und wie können sich Bürgerinnen und Bürger aus Ihrer Sicht vor Manipulation in Nachrichten und im Netz schützen?
Die Frage müsste doch eher sein: „Wer ist noch nicht auf Fake News reingefallen“! Das perfide an falschen Informationen ist ja, dass sie auf den ersten Blick so gut geschrieben sind! Nur an den entscheiden Stellen fehlen dann die Herleitungen oder Quellen. Deswegen kann ich mich auch nicht davon frei machen, auf den ersten Blick über so manche Headline erstaunt gewesen zu sein. Ich habe mir allerdings auch privat antrainiert, solche News mit anderen Quellen abzugleichen. Insbesondere bei verpixelten Screenshots in WhatsApp-Gruppen mit vielen Ausrufezeichen und emotionalem Begleittext werde ich hellhörig. Aktuell haben wir ein enormes Überangebot an Inhalten im Netz – egal, ob politisch oder unterhaltend. Das erfordert von allen, die sich dort aufhalten eine gewisse Orientierung. Wie auch im Straßenverkehr liegt die Verantwortung, sich angemessen zu verhalten, bei allen. Denn auch das ist, was Demokratie ausmacht.
Alle Beiträge aus dieser Serie:
- Desinformation und Radikalisierung im Netz: Interview mit Marina Weisband
- Desinformation und Radikalisierung im Netz: Interview mit Rita Schwarzelühr-Sutter
- Desinformation und Radikalisierung im Netz: Interview mit Sabine Frank (YouTube)
- Desinformation und Radikalisierung im Netz: Interview mit Alice Echtermann (CORRECTIV)