Interview mit Christoph Igel über Digitale Bildung
Die Digitalisierung in Gesellschaft und Arbeitswelt schreitet unaufhörlich voran, nur um die Digitale Bildung ist es in Deutschland noch nicht allzu gut bestellt. Mit der Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft, die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka im Juni vorgestellt hat, soll das jetzt anders werden. Mit dem Investitionsprogramm DigitalPakt#D will das BMBF außerdem Digitale Bildung in den Bundesländern fördern. Auch der Nationale IT-Gipfel am 16. und 17. November in Saarbrücken hat dieses Jahr den Schwerpunkt Digitale Bildung. Deshalb wollen wir es genauer wissen: Was passiert in der Bildung in puncto Digitalisierung? Was sind die Ansätze, Herausforderungen und Vorhaben? In unserer Interviewreihe zur Digitalen Bildung in Deutschland haben wir Akteure aus Politik und Wissenschaft befragt. Heute im Interview mit UdL Digital: Prof. Dr. Christoph Igel,wissenschaftlicher Leiter des Educational Technology Lab des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Berlin.
Professor Igel forscht und entwickelt seit mehr als 20 Jahren zur digitalen Bildung. Als Leiter des Educational Technology Labs des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) widmet er sich der Unterstützung von Bildungs- und Qualifizierungsprozessen (vor-)schulischer, akademischer sowie beruflicher Aus-, Fort- und Weiterbildung durch innovative Softwaretechnologien. Christoph Igel ist der Ansicht, dass es mehr als einer curricularen Verordnung bedarf, um digitale Bildung an allen Schulen möglich zu machen. An der Technik mangele es nicht in Deutschland, aber es bedarf eines Kulturwandels, sagt der Professor, der vor kurzem bereits beim UdL Digital Talk zum Thema „Regeln für die digitale Welt“ im Telefónica BASECAMP zu Gast war.
Herr Professor Igel, die Bundesbildungsministerin hat mit dem DigitalPakt#D ein Programm mit fünf Milliarden Euro zur Investition in die digitale Infrastruktur von Schulen angekündigt. Was könnte eine solche Investition bewirken?
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass das BMBF die Initiative ergriffen hat. Experten aus Bildung, Wissenschaft, IT-Wirtschaft und Industrie fordern dies seit vielen Jahren. Es scheint so, als würde nun die dringlich erforderliche Dynamik entstehen, um Schule, Hochschule und berufliche Bildung in die Digitalisierung zu überführen. Aber machen wir uns nichts vor: Es ist ein Vorschlag, dessen Annahme für die Bundesländer an zahlreiche Bedingungen geknüpft ist. Wir wissen etwa, wie aufwendig die Festlegung gemeinsamer technischer Standards über die Grenzen von Bildungsinstitutionen hinweg ist. Und es mangelt nicht an Angeboten zur Fort- und Weiterbildung oder pädagogischen Konzepten für einen medial angereicherten Unterricht. Die Frage ist doch, warum werden diese vorliegenden Angebote nicht angenommen, bestehende Standards nicht gemeinsam genutzt? Ich bin daher zurückhaltend hinsichtlich möglicher Effekte. Die Initiative des BMBF ist richtig und wichtig, meines Erachtens aber zu sehr „old school“. Zukunftsweisende Themen wie Education Governance, Education Data Mining, intelligente Bildungsnetze oder der Aufbau dringend gebotener Ökosysteme digitaler Bildung und Qualifizierung zwischen Bildung, öffentlicher Hand, Wirtschaft und Wissenschaft fehlen.
Man gewinnt den Eindruck, dass Deutschland in puncto digitaler Bildung derzeit noch ein Flickenteppich ist. Sind Sie mit der bisherigen Entwicklung zufrieden? Was muss Ihrer Meinung nach noch besser werden?
Der Eindruck täuscht nicht, Deutschland ist ein Flickenteppich digitaler Inhalte, Software und Hardware, Methoden und Interaktionsformen. Ich sehe dies als Chance, auch wenn diese Vielfalt aus Sicht von Informatik und Technologie erhebliche Herausforderungen mit sich bringt. Ein Beispiel hierfür sind die bereits angesprochenen Standards. Meines Erachtens muss digitale Bildung ebenso bunt und vielfältig sein wie das Lehren und Lernen von Menschen eben ist. Formale Bildungsangebote in Schule, Hochschule und beruflicher Bildung profitieren von digitaler Bildung ebenso wie informelle und non-formale Lernszenarien. Im Übrigen: Die vielfach geforderte Individualisierung und Berücksichtigung von Diversität erfährt durch Bildungstechnologien und digitale Medien eine ganz neue Dimension und Perspektive. Wenn wir erlauben, dass Daten etwa über individuelle Lernwege in geschützter und vertrauensvoller Weise genutzt werden. In Verbindung mit Methoden der Künstlichen Intelligenz können unter dieser Prämisse bereits heute Bildungstechnologien zum intelligenten Lernbegleiter werden und wie ein guter Lehrer individuelle Lernpläne, persönliche Hilfe und Unterstützung zur Verfügung stellen. Wir müssen dies jedoch wollen.
Medienbildung und digitale Bildung sind inzwischen Bestandteil vieler Lehrpläne. Laut dem aktuellen Bericht des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) gilt das allerdings nicht für die Lehrerbildung und das Lehramtsstudium, wo dieses Thema offenbar deutschlandweit noch immer vernachlässigt wird. Wie kann dieser Missstand behoben werden?
Medienbildung beginnt in der Familie. In der Schule, in der Hochschule und am Arbeitsplatz wird sie vertieft, ausgebaut, um spezifische Bezüge erweitert. Wenn wir also Studierende an Hochschulen in Lehramtsstudiengängen qualifizieren, sollte ein breites Fundament hinsichtlich einer kompetenten Nutzung digitaler Medien bereits bestehen. Und der kritisch-reflektive Umgang damit geübt sein. Nach mehr als zwei Jahrzehnten Forschung und Entwicklung zur digitalen Bildung habe ich ernsthafte Zweifel, ob eine curriculare Verankerung digitaler Bildung unser Weg in Deutschland sein sollte. Gerade in berufspädagogischen Kontexten erfahre ich immer wieder doch sehr grundlegende Zweifel am pädagogischen Wert digitaler Bildung. Zugleich erfahre ich aber auch Begeisterung ob der Möglichkeiten für den Unterricht, das Lernen oder das Schulmanagement. Zugegebenermaßen ist die Gruppe der Zweifler größer als die Gruppe der Begeisterten. Ich will damit sagen: Es bedarf mehr als eine curriculare Verordnung, um digitale Bildung möglich zu machen. Es bedarf eines Kulturwandels. Auch bei heutigen und zukünftigen Generationen der Lehrerinnen und Lehrer. Ich habe nicht den Eindruck, dass dieser Kulturwandel vollzogen wird. Er ist bestenfalls initiiert.
Was müssen Schüler Ihrer Meinung nach in der Schule lernen, um gut gerüstet für die Digitalisierung zu sein?
Digitalisierung muss erfahrbar gemacht werden. Es ist kein theoretisches Konstrukt, das ich an einer Kreidetafel stehend herleiten und beweisen kann. Sicherlich ist es von Vorteil, Hintergründe der Informatik zu verstehen, zu wissen, wie Programmierung erfolgt. Mindestens genauso wichtig ist es aber auch zu verstehen, dass Digitalisierung heute unser Leben in allen Bereichen unaufhaltsam durchdringt. Ein globales Phänomen ist, dass die Welt sich durch das Internet in den zurückliegenden Jahrzehnten grundlegend verändert hat. Bedeutsam ist das Wissen um Daten, deren Nutzung, Schutz und Vertrauen. Kurzum: Kritisch-reflektiver Umgang mit der Digitalisierung ist wichtig. Mindestens genauso wichtig ist aber auch das Erlernen der Möglichkeit des Gestaltens der Digitalisierung und mit der Digitalisierung. Etwa im musisch-kulturellen, in ökonomisch-unternehmerischen Zusammenhängen. Und in vielen anderen Bereichen mehr. Wenn uns dies in der Schule und an vielen anderen Orten von Bildung und Qualifizierung gelingt, bereiten wir die nachwachsende Generation verantwortungsvoll auf die Zukunft vor.
In welchen Bereichen steht Deutschland bei der digitalen Bildung Ihrer Meinung nach besonders gut da? Und wo gibt es die größten Defizite?
Anlässlich des Nationalen IT-Gipfels der Bundesregierung hat die von mir geleitete Expertengruppe Intelligente Bildungsnetze in Deutschland eine umfassende Analyse der Digitalisierung in Hochschulen und in der beruflichen Bildung vorgelegt. Das Ergebnis ist ernüchternd: In der Hochschule drohen wir den Anschluss an die internationale Entwicklung der digitalen Bildung zu verlieren, auch wenn punktuell Fortschritte erzielt wurden. In Konzernen und großen Unternehmen hingehen gelten vernetzte digitale Bildungsangebote als bewährte Praxis. Vereinzelt gilt dies auch für Mittelständler. In Kleinunternehmen und berufsbildenden Schulen ist es wie in den Hochschulen: Digitale Bildung ist die Ausnahme, nicht die Regel. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Digitalisierung in Deutschland als weit weniger fortgeschritten, als es technologisch möglich wäre. Im internationalen Wettbewerb spielen wir nur eine Nebenrolle und laufen Gefahr, ausschließlich Kunde international agierender Anbieter von Bildungstechnologien zu werden. Wollen wir das? Ich hoffe doch nicht.
Am 16. und 17. November findet in Saarbrücken der 10. Nationale IT-Gipfel mit dem Schwerpunkt Digitale Bildung statt. Welches Signal des Bundes sollte Ihrer Meinung nach vom Gipfel ausgehen?
Wenn man derzeit auf einschlägigen Fachtagungen unterwegs ist, hört man sehr oft einen Satz: Wir haben in Deutschland kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem bei der Digitalisierung von Bildung und Qualifizierung. Welches Signal vom diesjährigen IT-Gipfel in Saarbrücken ausgehen sollte? Nicht mehr reden, vielmehr tun. Weniger Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten diskutieren, sondern das Thema „auf die Straße“ bringen. Es geht nur gemeinsam, Bund, Ländern und Kommunen. Wirtschaft und Wissenschaft mit Politik und Gesellschaft. Weniger Partikularinteressen vertreten, vielmehr Gemeinsinn für die Notwendigkeit digitaler Bildung zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit unseres Landes entwickeln. Das würde die Digitale Bildung in Deutschland einen deutlichen Schritt voranbringen.