Leben in der cyborgisierten Gesellschaft
Er kann sein Lieblingslied essen und die deutsche Flagge hören. Alle, die sich einmal mit dem Thema Cyborgs auseinander gesetzt haben, kennen Neil Harbisson und sein Eyeborg. Von Geburt an ist er farbenblind und kann seit einigen Jahren durch einen Chip am Hinterkopf und einen Sensor über seinen Augen Farben als Klänge hören. Im Jahr 2010 gründete er in Barcelona zusammen mit der Choreographin Moon Ribas die Cyborg Foundation als eine Plattform für Menschen, die ihre Wahrnehmung erweitern wollen. Über ein internetfähiges Armband ist Moon Ribas mit Seismographen verbunden, die jedes Erdbeben an das Armband weitergeben. So fühlt sie sich mit der Erde verbunden.
Wem gehört der Mensch?
In einer möglichen Zukunftsvision könnten alle Menschen zu Cyborgs werden und ihren Körper ihren individuellen Wünschen anpassen, je nachdem, was sie stärker wahrnehmen wollen – elektromagnetische Wellen spüren, Infrarotstrahlung sehen oder einen umfangreicheren Frequenzbereich hören. Diese Möglichkeiten werfen ganz neue gesellschaftspolitische Fragen auf, etwa: Wem gehört mein Gehör? Darf der Nutzer eines Hörgerätes bestimmen, wie viel er hören will oder ist dies dem Hersteller vorbehalten?
Eine strikte Definition des Begriffs Cyborg gibt es nicht und es existiert keine weltweit anerkannte, übergeordnete Instanz, die darüber bestimmen könnte. Zwei Wissenschaftler schlugen den Begriff in den 1960er Jahren vor dem Hintergrund der Raumfahrt und der Anpassung des Menschen an ein extraterrestrisches Leben vor: „The Cyborg deliberately incorporates exogenous components extending the self-regulatory control function of the organism in order to adapt it to new environments.“ Generell kann also als Cyborg gelten, wer technische Implantate unter der Haut trägt. Unklar ist, ob auch die sogenannten wearables, wie etwa Google Glass, unter die Definition fallen, da sie nicht permanent mit dem Körper verbunden sind, sondern ähnlich eines Smartphones eine externe Erweiterung des Menschen darstellen. Es geht bei der Debatte jedenfalls nicht um Roboter, sondern um Menschen, die Entscheidungen treffen.
Übermensch oder Lebenseinstellung?
Doch nicht alle finden diesen technisch erweiterten, quasi „verbesserten“ Menschen ansprechend oder überhaupt erstrebenswert. Die Möglichkeit, ein „Übermensch“ zu werden, steht nicht der gesamten Gesellschaft offen, so dass Kritiker befürchten, es entstünden schließlich zwei Klassen: die Menschen 2.0 und die natürlichen Menschen.
Alle Menschen haben das Recht darauf, die Welt so wahrzunehmen, wie sie es wollen, argumentiert hingegen Stefan Greiner. Er war an der Gründung des Cyborg e.V. mit dem Namen „Gesellschaft zur Förderung und kritischen Begleitung der Verschmelzung von Mensch und Technik“ letztes Jahr in Berlin beteiligt und wünscht sich einen toleranten, diskriminierungsfreien Umgang mit Cyborgs in der Gesellschaft.
Ein Mensch muss nicht so bleiben, wie er auf die Welt gekommen ist, glaubt er. Dieser Sicht widersprechen nicht nur religiöse Vorstellungen, doch die gesellschaftspolitische Debatte über die neue Lebensweise hat noch nicht einmal richtig begonnen. Man müsse zunächst eine Wahrnehmung dafür schaffen, wie viel technische Erweiterung im Alltag bereits existiert, mit der die junge Generation aufwächst. Ein fast flächendeckender mobiler Internetzugang etwa, im Prinzip eine Erweiterung des eigenen Wissens und Denkens, ist für viele schon selbstverständlich, hebt Stefan Greiner hervor. Für Cyborg-Befürworter ist die logische Fortführung dieser subtilen soziotechnischen Entwicklung, die Technologie unter die Haut wandern zu lassen.
Neue Wege für die Gesellschaft
Bei der Technik will der Cyborg-Verein jedoch keine Abhängigkeit der Nutzer von den Konzernen mit Monopolstellung entstehen lassen und setzt daher auf selbstentwickelte Geräte auf Open Source-Grundlage. Dadurch wäre auch das Problem des Datenschutzes geklärt, meint Greiner. Bei Unternehmen sei die Intransparenz darüber, was mit den persönlichen Daten aus den Geräten geschieht, riesig. Deswegen hacken und experimentieren die Mitglieder des Vereins mit Geräten und mit ihrem Körper. Was man mit der Technik macht, dafür sei jeder Mensch selbst verantwortlich, findet Stefan Greiner. Sie schaffen dadurch Fakten, welche als Grundlage für eine Diskussion dienen sollen, die mit der Vereinsgründung begonnen werden soll.
Während der medizinische Nutzen eines Implantats, etwa beim Herzschrittmacher, längst unumstritten ist, übertreten Pläne zur Erweiterung der natürlichen Funktionen des Menschen meist schnell die Schwelle der Akzeptanz in der Gesellschaft. Insbesondere wenn die Technologie im Körper verschwindet und für das Gegenüber nicht länger sichtbar ist, tauchen komplizierte rechtliche und ethische Fragen auf, die geklärt werden müssen. Nach Meinung von Stefan Greiner müssten in einer „cyborgisierten Gesellschaft“ neue soziale Verträge entstehen, also neue Werte und Normen, wie man miteinander umgeht. Da diese Entwicklung letztendlich unaufhaltsam ist – wie jeder technische Fortschritt – sollte sich die Gesellschaft mit ihrem Mentalitätswandel nicht mehr allzu lange Zeit lassen, sofern sie die Chance nutzen möchte, bei der Gestaltung der neuen Lebenseinstellung mitzuwirken.
Der vorstehende Artikel erscheint im Rahmen einer Kooperation mit dem Berliner Informationsdienst auf UdL Digital. Aylin Ünal ist als Redakteurin des wöchentlich erscheinenden Monitoring-Services für das Themenfeld Netzpolitik verantwortlich.