Interviewreihe zum Thema „Funktionaler Analphabetismus“

Schauspieler Heio von Stetten, Foto: Heio von Stetten
Veröffentlicht am 19.12.2011

In Deutschland verfügen laut der Anfang des Jahres veröffentlichten „leo. – Level-One Studie“ 7,5 Millionen Erwachsene über so geringe Lese- und Schreibkenntnisse, dass sie als funktionale Analphabeten gelten. Das heißt, dass sie zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben können, nicht jedoch kurze Texte.

Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung setzt sich dafür ein, diese Zahl zu senken, so etwa durch die von ihnen angebotenen Alphabetisierungskurse. Eine weitere Maßnahme sind die jährlich stattfindenden Schreibwettbewerbe für Teilnehmer der Kurse, bei denen die besten Texte  ausgezeichnet werden. Die diesjährige Preisverleihung fand im November im BASE_camp statt – wir haben die Chance genutzt, um die Jurymitglieder Heio von Stetten und Tim-Thilo Fellmer sowie den Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung Peter Hubertus zum Thema Analphabetismus zu interviewen.

Interview mit Heio von Stetten, Schauspieler:

Warum engagieren Sie sich für Menschen ohne ausreichende Lese- und Schreibkompetenz und was erhoffen Sie sich davon?

Schauspieler Heio von Stetten, Foto: Heio von Stetten

Heio von Stetten: Das war ein Zufall: Bei der 1. Soiree zur Eröffnung des Hotel Concorde habe ich Herrn Hubertus kennengelernt. Von da an blieben wir in festem Kontakt; ich selbst hatte früher so etwas wie eine Lese-Rechtschreibstörung. Damals hat man das schlicht ignoriert und die Folge war, dass alles, was mit Lesen und Schreiben zu tun hatte, für mich eine Qual war. Heute weiß man, dass das mit einer Menge Faktoren zusammenhängt. Ein wichtiger Punkt aber ist, dass Reifeprozesse im Gehirn, die uns erst das Lesen und Schreiben ermöglichen, bei einigen Kindern deutlich später einsetzen, als bei anderen. Darauf kann man nicht oft genug hinweisen: Wenn sich ein Kind anfangs in der Schule mit dem Lesen und Schreiben schwer tut, hat das nichts damit zu tun, dass dieses Kind dumm ist! Denn diese Behauptung führt unter Umständen dazu, dass dieses Kind sich für etwas schämt, für das es nicht nur nichts kann, sondern dass sich wahrscheinlich irgendwann behebt. Die Scham kann allerdings dazu führen, dass das Kind zum falschen Schluss kommt: ich bin doof, das lern ich nie!

Würde es Sie einmal reizen, als Schauspieler in die Rolle eines Analphabeten zu schlüpfen?

Heio von Stetten: Es gab dazu schon Ideen, weiter bis zum Expose sind sie leider bisher nicht gediehen!

Was hat Sie an den beim Schreibwettbewerb eingesandten Texten beeindruckt?

Heio von Stetten: Die hohe erzählerische Kompetenz. Die Autoren hatten offensichtlich nicht nur „Schreiben“ als rein handwerklichen Vorgang erlernt, sonder gleichzeitig die Plastizität von Sprache, die Mittel für Spannung und überraschende Umschwünge erkannt.

Nach welchen Kriterien haben Sie dann die Besten ausgesucht und was hat Ihnen an den Siegertexten besonders gefallen?

Heio von Stetten: Es fällt naturgemäß schwer, den „besten“ Text auszusuchen: Da ist immer der eigene Geschmack im Spiel. Deshalb hat man ja auch eine Jury. Die Texte, die wir ausgewählt haben, sind alle ausgesprochen unterschiedlich. Einer sehr reflektiert, einer sehr emotional, einer sehr komisch.

Welchen Stellenwert messen Sie der mobilen Kommunikation für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bei?

Heio von Stetten: Die mobile Kommunikation hat definitiv einen wichtigen Stellenwert, allerdings ist Kommunikation nicht nur als quantitatives Ereignis zu erfassen, sondern vor allen Dingen als qualitatives. Hohe Erreichbarkeit ist dann nutzlos, wenn sie mir keine zusätzliche Lebensqualität bietet.

Interview mit Tim-Thilo Fellmer, Kinderbuchautor

Sie waren früher ja selbst Betroffener. Wie schwer war ihr Weg zum Lesen und Schreiben und sogar zum erfolgreichen Schriftsteller?

Tim-Thilo Fellmer: Mein eigener Weg, mich erst als Erwachsener der Welt der Buchstaben zu nähern und den Umgang mit dem geschriebenen Wort zu erlernen, war für mich, wie für die meisten Betroffenen, ein sehr schwieriger, mühsamer und langer Prozess.

Mit Mitte zwanzig habe ich mich zum ersten Mal für einen Alphabetisierungskurs angemeldet. Ich habe es damals getan, obwohl ich zu dem Zeitpunkt schon lange nicht mehr daran glauben konnte, dass ich tatsächlich nochmal in meinem Leben richtig lesen und schreiben lernen würde. Mir blieb aber keine große Wahl. Mein Leidensdruck war damals so stark geworden, dass ich das Gefühl hatte, sonst niemals glücklich werden zu können.

Dem ersten Kurs folgten in den nächsten ca. neun Jahren noch viele weitere. Es waren aber auch unzählige Stunden des alleine Lernens, zeitweise begleitet von Einzelunterrichtsstunden, die es mir ermöglichten, eines Tages das Schreiben meines Erstlingswerkes „Fuffi der Wusel“ zu beginnen.

Bezüglich des Erfolges möchte ich nur folgendes sagen: Wenn man von etwas träumt und diesen Traum nicht aus den Augen verliert und er immer mehr zum Teil des eigenen Lebens wird, ist meiner Meinung nach fast alles möglich.

Was hat Sie an den eingereichten Texten besonders berührt?

Tim-Thilo Fellmer: Für mich ist jeder einzelne Text ein Beweis dafür, dass ihr Verfasser schon viel früher hätte schreiben und lesen lernen können, wenn er in seiner Schulzeit richtig unterstützt worden wären.

An dieser Stelle möchte ich noch ganz klar sagen, dass ich in diesem Zusammenhang uns als Gesellschaft in der Pflicht sehe, denjenigen eine zweite Chance zu geben, die früher als Kinder anscheinend noch nicht mal wirklich eine erste hatten.

Was können Sie den jungen Autorinnen und Autoren aus Ihren Erfahrungen mit auf den Weg geben?

Tim-Thilo Fellmer: Jeder einzelne von ihnen kann mächtig stolz auf sich sein. Deshalb möchte ich euch bitten weiterzuschreiben, um uns auch in Zukunft mit euren Texten zu erfreuen.

Das kreative Schreiben war für mich, bevor es zunehmend zur Leidenschaft wurde,  durchaus ein Stück weit Eigentherapie. Denn mit jedem Wort, das man schreibt, stärkt man seine Möglichkeiten, immer leichtfüßiger in der Welt der Buchstaben umherzugehen, und das ist doch wahrlich ein schöner Nebeneffekt. Oder?

Welchen Stellenwert messen Sie der mobilen Kommunikation für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bei?

Tim-Thilo Fellmer: Da die mobile Kommunikation mittlerweile, ja nahezu in allen gesellschaftlichen Schichten angekommen ist und durch die rasante Entwicklung in der Technologie, immer mehr Bereiche erobert, ist sie für mich aus der Welt von heute eigentlich nicht mehr wegzudenken. Ich weiß, dass gerade Menschen, die sich mit den Buchstaben schwertun, oftmals Teilbereiche der mobilen Kommunikation als Hilfe für sich nutzen und dadurch eine bessere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erlangen können. Für mein Leben habe ich auch erst in den letzten Jahren viele der mobilen technischen Möglichkeiten erobert und ich bin sehr froh, dass ich sie inzwischen in einer so großen Bandbreite nutzen kann.

Interview mit Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung

Worin sieht der Bundesverband seine Aufgabe?

Außerdem müssen wir Werbung dafür machen, dass es sich lohnt, lesen und schreiben zu lernen. In den letzten Jahren konnten wir mit dem Projekt iCHANCE neue Akzente setzen: Prominente Musiker und Comedians setzen sich für die Alphabetisierung ein, und die Videos werden über YouTube und andere soziale Netzwerke bekannt gemacht. Sie erreichen vor allem junge Leute, die besonders schwer zum Lernen zu motivieren sind.

Peter Hubertus: Der Bundesverband setzt sich dafür ein, dass man auch im Erwachsenenalter lesen und schreiben lernen kann. Im Moment lernen weniger als 20.000 Erwachsene in Alphabetisierungskursen. Das ist angesichts der Zahl von 7,5 Millionen Betroffenen eine sehr geringe Beteiligungsquote.

Als Anlaufstelle für Betroffene und deren Vertrauenspersonen haben wir vor vielen Jahren das Alfa-Telefon eingerichtet. Mit unseren Kampagnen machen wir auf diese kostenlose Beratungsmöglichkeit aufmerksam. Unter der Nummer 0800 53 33 44 55 helfen wir Anrufern, einen Kurs zu finden oder zeigen andere Lernmöglichkeiten auf.

Um dem Vorurteil wirksam zu begegnen, das funktionale Analphabeten dumm sind, unterstützen wir seit Jahren Lerner, offener mit ihren Lese- und Schreibschwierigkeiten umzugehen. Regelmäßig berichten Betroffene in Interviews und auf Veranstaltungen darüber, warum sie als Kind nicht richtig lesen und schreiben gelernt haben, warum sie sich schließlich als Erwachsene auf den Weg zur Schrift gemacht haben und wie sich ihr Selbstbewusstsein und ihr ganzes Leben dadurch positiv verändert haben. Das ist immer sehr beeindruckend. Wer das einmal erlebt hat, der hat eine Hochachtung vor diesen Menschen und sicherlich nicht mehr das Vorurteil, sie sind dumm.

Aktuell soll auf Bundesebene ein Grundbildungspakt zur Alphabetisierung vorbereitet werden. Der Bundesverband ist daran beteiligt und setzt sich dafür ein, dass nicht nur zeitlich befristete Projekte auf Bundes- oder Landesebene durchgeführt werden, sondern ein Zeitraum von vielleicht zehn Jahren in den Blick genommen werden muss.

Welchen Stellenwert messen Sie der mobilen Kommunikation für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bei?

Peter Hubertus: Wenn ich über eine Spracheingabe navigieren oder Internetseiten aufrufen kann, wenn ich mir Inhalte vorlesen lassen kann – dann sind das alles Dienste, die für Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten hoch interessant sind. Auch beim Lesen-  und Schreibenlernen werden in Zukunft die neuen mobilen Kommunikationsmöglichkeiten eine Rolle spielen. Davon bin ich überzeugt.

Seit mehreren Jahren zeichnen Sie Autorinnen und Autoren aus, die ihren funktionalen Analphabetismus überwunden haben. Wie kam es zu der Idee eines Schreibwettbewerbes für die Lernenden?

Peter Hubertus: In den Lese- und Schreibkursen für Erwachsene spielen eigene Texte eine große Rolle. Die Lerner schreiben z.B. etwas zu ihrem Hobby, über ihre Erfahrungen mit der Schrift oder was sie sich vom Leben erhoffen. Sie befassen sich mit einem Thema, das sie interessiert.

Viele dieser Texte sind sehr interessant und zu schade, nur im Kurs behandelt zu werden. Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung hat deshalb schon seit vielen Jahren leicht lesbare Texte veröffentlicht, die von Lernern verfasst worden sind.

Wie sind die Reaktionen auf den Schreibwettbewerb von Seiten der Betroffenen?

Peter Hubertus: Der Schreibwettbewerb motiviert natürlich, einen besonders guten Text zu verfassen. In vielen Kursen wird manchmal wochenlang an den Texten gefeilt. Das befördert das Lernen und fördert den Zusammenhalt in den Kursen. Auch wenn es nur drei Preisträger geben kann – alle profitieren letztlich davon, dass sie mitgemacht haben. Für die Gewinner ist das dann eine enorme Anerkennung ihrer Leistung und die Reise nach Berlin mit der Auszeichnung eine aufregende Angelegenheit. Manche Lerner fahren zum ersten Mal mit der Bahn, viele sind zum ersten Mal in Berlin, viele übernachten zum ersten Mal in einem Hotel. Und sie werden für eine selbst verfasste Geschichte ausgezeichnet! Das werden sie vermutlich ihr ganzes Leben nicht vergessen.

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