Digitale Adipositas?: Im Fast-Food-Zeitalter des Informationskonsums

Foto: Henrik Andree
Veröffentlicht am 06.04.2017

Foto: Henrik Andree

Wie unser heutiger Konsum von Informationen an den Konsum von Fast Food erinnert und was wir von der Essenskultur über ein gesünderes Verhältnis zum Informationskonsum lernen können. Oder landen wir im Zeitalter von „Big Data“ möglicherweise selbst auf der Speisekarte – und werden vom Jäger und Sammler von Informationen zum Gejagten der Informations-Fast-Food-Industrie?

Nahrung und Informationen weisen, historisch betrachtet, überraschende Parallelen auf. Nahrung war vor langer Zeit eine äußerst schwierig zu beschaffende Ressource: Die Menschen mussten ihre Höhle verlassen, ein Tier töten oder eine Pflanze pflücken, ohne zu wissen, ob diese überhaupt essbar (oder vielleicht gar giftig!) war. Dann wurde Nahrung industrialisiert: Es folgten Agrarkultur, und – ungefähr in den 1990er-Jahren – das Fast-Food-Zeitalter.

Essen und Infos: Vom Mangel zum Überfluss

Vergleichen wir diese Entwicklung mit der unserer Informationskultur, werden die oben erwähnten Parallelen schnell deutlich. Auch Informationen waren jahrhundertelang eine oft beschwerlich zu beschaffende Ressource. Dass das heute nicht mehr der Fall ist, liegt an Erfindungen, die Informationsaustausch billiger, schneller und räumlich ungebundener machten: Druckerpresse, Telefon und -fax, das Internet, und nicht zuletzt: Das Smartphone. Befinden wir uns heute vielleicht im Fast-Food-Zeitalter des Informationskonsums?

„Auch Informationen waren jahrhundertelang eine oft beschwerlich zu beschaffende Ressource. Dass das heute nicht mehr der Fall ist, liegt an Erfindungen, die Informationsaustausch billiger, schneller und räumlich ungebundener machten.“

Seit den 1990er-Jahren ist Fast Food vielerorts verfügbar. Fast Food sieht auf Bildern oft verlockend aus – saftiges Fleisch, frischer Salat, in einem knackigen Brötchen. Doch das positive Erlebnis ist – wenn überhaupt – bekanntlich nur von kurzer Dauer, denn schnell macht sich, oft noch während des Essens, ein Gefühl von Unbehagen breit: Ist das, was ich gerade esse, wirklich gut für mich?

picjumbo iPhone Smartphone
Foto: picjumbo / Viktor Hanacek

Ähnlich ist es beim Informationskonsum von heute. Das Smartphone macht Informationen überall verfügbar. Es ist für uns immer wieder verlockend, das Gerät zu aktivieren und auf neue Mitteilungen zu überprüfen, denn es ist theoretisch möglich, dass etwas Wichtiges passiert ist, und dass wir noch nichts davon wissen. Doch wenn wir dann unsere Facebook-Timeline herunter scrollen, stellt sich auch hier die Frage: Muss ich mir das gerade wirklich „reinziehen“? Und auch beim heutigen Informationskonsum „to go“ kann selten von einem nachhaltigen Sättigungsgefühl die Rede sein

„Wenn es eine Parallele zwischen Nahrungs- und Informationskultur gibt, können wir dann vielleicht von unserer Nahrungskultur lernen, und so unseren Informationskonsum etwas „gesünder“ gestalten?“

Ganz einfach dürfte das nicht werden: Oft ist es mit dem Informationskonsum wie mit einer „Fata Morgana“ – ein vermeintlicher Ort des Wohlfühlens in der trockenen Wüste des Alltags. Dass er sich oft als bloße Illusion entpuppt, vergessen wir jedoch häufig schnell wieder.

Aufmerksamkeit: Knapper als Zeit oder Geld

Leicht lässt sich die folgende These aufstellen: Die knappste Ressource in unserer Gesellschaft ist nicht Zeit oder Geld, es ist Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit scheint das zu sein, was alle von uns wollen, und auch das, was wir von anderen wollen. Wir haben jedoch immer weniger Aufmerksamkeit zu vergeben, und so entsteht ein „Vakuum“ der Aufmerksamkeit. Es lässt sich auch mit einem schwarzen Loch vergleichen: Je mehr Urlaubs- und Katzenfotos wir in dieses schwarze Loch hochladen, desto stärker wird seine Anziehungskraft und desto schwerer wird es für ein Individuum, zu widerstehen – oder gar darin aufzufallen. Anziehung und Ablenkung sind das gleiche, nur von zwei verschiedenen Standpunkten aus betrachtet.

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Foto: unsplash / Sasha Zvereva

Besonders lässt sich dieses Problem in Situationen der Langeweile beobachten. Wer sich einmal im Bus umschaut, der sieht vor allem Menschen, die auf ihr Smartphone starren. Wer dann zuschaut, was sie tun, sieht ein spannendes Muster: Sie bewegen sich im Kreis. Man schaut bei WhatsApp nach – nichts Neues. Man schaut mal bei Facebook – nicht viel Neues, zumindest nichts Spannendes. Man schaut in die E-Mails – nichts Neues. Man schaut auf einer Nachrichtenseite – nichts Neues. Also zurück zu WhatsApp. Wie ein Tiger im Käfig schleicht man an den gleichen Orten vorbei, in der Hoffnung, irgendwas würde passieren.

„Verlieren wir unsere Fähigkeit, Langeweile und Einsamkeit zu ertragen?“

Momente der Langeweile und Einsamkeit sind natürlich keine schönen Momente – aber sie sind wichtig für uns. Denn in diesen Momenten beschäftigen wir uns mit uns selbst, können kritisch reflektieren – und uns so weiterentwickeln. Langeweile ist außerdem ein wichtiges Element in kreativen Prozessen: Das weiß jeder aus eigener Erfahrung, der schon einmal ein Kreuzworträtsel lösen wollte und dabei nicht weiterkam – legt man das Rätsel beiseite, offenbart sich das fehlende Wort oft später, in einem Moment des Nichtstuns, wie von selbst.

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Foto: iStock / Todor Tsvetkov

Wir sind, so könnte man behaupten, vom Jäger und Sammler von Informationen zum Gejagten der Informationskultur geworden. Clay Johnson schreibt dazu in seinem Buch „The Information Diet eindrucksvoll, wie die Arten von Information, die lange für uns von evolutionärem Vorteil waren, noch heute benutzt werden, um uns zu „ködern“: Informationen, die Angst auslösen und Informationen, die unseren Wunsch nach Bestätigung ansprechen.

„Aber was ist mit zu viel Wissen? Wenn wir uns im Fast-Food-Zeitalter des Informationskonsums befinden, gibt es dann auch ein Pendant zur Adipositas?“

Informations-Fettleibigkeit? Es gibt heutzutage Leute, die scheinbar über jede Menge unnützes Wissen verfügen (so mancher scheint jedes Internet-Mem zu kennen). Zeitverschwendung? Nicht unbedingt, schreibt Jaron Lanier in seinem Buch „You are not a Gadget“: Es sind die lustigen Katzenvideos, die das Netz am Laufen halten, bis wir es wirklich brauchen (wie z. B. beim arabischen Frühling).

Der Algorithmus ist uns auf den Fersen. Je mehr wir konsumieren, desto eher kann er abschätzen, was uns brennend interessieren könnte. Im Laufe der Geschichte war es stets von Vorteil, mehr Informationen zu haben: „Wissen ist Macht.“ Das gilt heute, nach wie vor, und im Zeitalter von „Big Data“ umso mehr.

Big Data: Souveränität über eigene Daten ist wichtig

„Big Data“ kann uns dabei helfen, Muster zu erkennen, die zuvor unsichtbar waren. Es kann uns dabei helfen, statistischen Zusammenhängen auf die Schliche zu kommen, über die wir uns bisher nicht im Klaren waren. Wie jede neue Technologie wird auch „Big Data“ uns vor die Herausforderung stellen, einen ethisch akzeptablen Umgang damit zu finden, sodass „Big Data“ nicht zum Synonym für „Big Überwachung“ und „Big Manipulation“ wird. Denn es ist natürlich denkbar, dass jeder meiner Schritte und jedes Stück Schokolade sich auf meine Krankenversicherung auswirkt – und dass jeder Blick ins Schaufenster mein Interessenprofil schärft, mit Hilfe dessen Anbieter Werbung und Preise so anpassen können, dass ich „optimal“ konsumiere.

Deshalb ist es wichtig, die Souveränität über seine eigenen Daten zu haben, und zu verstehen, wie sie – für und gegen uns – verwendet werden können. Spannend ist hier der Begriff der Mündigkeit: Wer mündig ist, kann Geschäfte abschließen – er ist geschäftsfähig. Wer mündig ist, so die Definition des Begriffs, ist aber auch straffähig: Er kann für seine Fehler zur Verantwortung gezogen werden. Wir müssen lernen, auch in der digitalen Welt mündig zu sein – in Bezug auf unser eigenes Verhalten mit unseren eigenen Daten, aber auch in Bezug darauf, wie wir Informationen konsumieren.

„Was können wir also konkret von unserer Nahrungskultur lernen, um unseren Informationskonsum gesünder zu gestalten?“

Betrachten wir hierzu einmal die verschiedenen Aspekte des Essens: Warum essen wir? Wie beschaffen wir uns Nahrung? Wie konsumieren wir sie? Warum essen wir? Ganz einfach: Wir müssen essen, sonst sterben wir. Doch es gibt auch andere Gründe, beispielsweise soziale – wie ein Date oder ein Geschäftsessen. Viele Menschen essen zudem aus Langeweile und aus Frust.

Informationsdiät: Frustfressen im Internet vermeiden

Was können wir hier für unseren Informationskonsum ableiten? Zunächst einmal können wir festhalten, dass es oft keinen physiologischen Bedarf gibt, Informationen zu konsumieren – insbesondere im Falle von Social Media. Viele Gründe, aus denen wir Informationen zu uns nehmen sind sozial (damit wir z. B. „mitreden“ können) oder kompensatorisch: Frust, Langeweile, Einsamkeit. Wir sollten uns deshalb vor Augen führen, dass es unsere eigene Entscheidung ist, ob und welche Informationen wir konsumieren wollen, oder nicht.

Credit: unsplash / gregory-bourolia
Credit: unsplash / gregory-bourolia

Wie beschaffen wir uns Nahrung? Hier gibt es mehrere Möglichkeiten, und sie lassen sich auf unseren Informationskonsum übertragen. Prinzipiell wäre es beispielsweise möglich, jeden Tag auf dem Markt – oder beim Bauern – frisches Obst, Gemüse und Fleisch zu kaufen und so „nah an der Quelle“ zu konsumieren. Das ist ein guter Ansatz, der für viele Menschen im Alltag leider nicht praktikabel ist: Es ist aufwendig. Das andere Extrem, Fast Food, ist ebenfalls nicht praktikabel: Es ist ungesund. Unsere Kultur hat einen Kompromiss zwischen diesen beiden Extremen entwickelt: Den Supermarkt – frische Nahrungsmittel, auf Wunsch bereits verzehrfertig. Nicht zuletzt kann uns die Liste der Inhaltsstoffe auf der Verpackung sogar dabei helfen, bewusst auszuwählen, was wir konsumieren.

Was können wir hiervon für unseren Informationskonsum lernen? Wir können auch bei Informationen selbst entscheiden, wie nah an der Quelle wir konsumieren wollen: Wollen wir „industriell vorgekaute“ Häppchen, die bestenfalls als „Snack“ für zwischendurch ausreichen, oder wollen wir näher an die Quelle heran – und vielleicht sogar zwei lange Artikel zum gleichen Thema, die aus zwei Blickwinkeln argumentieren, lesen und selbstständig vergleichen? Wie beim Essen gilt: Es liegt an uns, zu fragen, wo das, was wir konsumieren, herkommt, was sich darin befindet und was es mit uns macht, wenn wir es konsumieren.

Gleichzeitig könnte man eine ähnliche Transparenz, wie wir sie bei Nahrungsmitteln von Herstellern gewohnt sind, von der Informations-Industrie fordern. So wie beispielsweise Farbstoffe und Geschmacksverstärker durch die oben erwähnten Listen der Inhaltsstoffe gekennzeichnet werden müssen, ist das bei Informationen, die wir konsumieren, meist nicht der Fall (Ausnahme: Altersfreigaben) – von den Informationen, die über uns selbst gesammelt werden, ganz zu schweigen. Schließlich handelt es sich dabei um Informationen, die unsere Präferenzen widerspiegeln – mit denen es also möglich ist, unser persönliches Informations-Lieblingsessen zuzubereiten: Ganz nach unserem individuellen Geschmack…

Nebenbeikonsum: Hirnloses Hineinschaufeln ist ungesund

Wie konsumieren wir Essen? Wie viel Aufmerksamkeit schenken wir dem, was wir konsumieren? Auch hier kennen wir ein breites Spektrum – auf der einen Seite gibt es das „Hineinschaufeln“ eines Fertiggerichtes beim Fernsehen und den Snack zwischendurch. Hier kommt dem, was wir essen, wenig Aufmerksamkeit zu: Wir konzentrieren uns auf etwas anderes.

„Wer schon einmal eine Diät gemacht hat weiß, dass das Problem nicht der leckere Hamburger ist, sondern dass wir selbst das Problem sind. Und so ist es auch beim Informationskonsum.“

Beim gemeinsamen Kochen mit Freunden und dem erstmaligen Besuch eines neuen Restaurants ist das anders: Hier spielt das Erlebnis des Essens die Hauptrolle. Eine ähnliche Wahl haben wir beim Informationskonsum: Es ist an uns, zu entscheiden, ob wir Informationen „nebenbei“ konsumieren, oder ob wir uns dafür Zeit nehmen (wie im Kino, oder bei einem „wichtigen“ Fußballspiel – Situationen des Informationskonsums, in denen wir nicht gestört werden wollen).

Frau Joggen Treppe shutterstock
Foto: shutterstock / lzf

Denn irgendetwas in uns sagt uns, dass wir an der Supermarktkasse, in Anbetracht des sich öffnenden Zeitfensters von 20 Sekunden Wartezeit, schnell auf unser Handy schauen sollten. Was können wir also tun, wenn der Feind am Ende wir selbst sind?

Es ist ganz einfach: Wir müssen uns dazu einmal genau anschauen, was Langeweile eigentlich ist. Eine Interpretation des Begriffs der Langeweile lautet: Die Unfähigkeit, sinnvoll mit der Umwelt umgehen zu können. Wenn wir es also schaffen, unsere Umwelt anders wahr zu nehmen, können wir unsere Langeweile nutzen: Als kreatives Instrument. Dazu braucht unser Geist etwas zum „Kauen“ – eine Beschäftigung, ähnlich wie ein Kaugummi. Ideal dafür geeignet sind die Fragen, die uns ohnehin beschäftigen – eine knifflige Aufgabe im Job, eine Idee für ein Projekt, oder ein besonders ausgeklügeltes Geburtstagsgeschenk für den Liebsten oder die Liebste. Kaum etwas ist schöner, als eine gute Idee zu haben – und die Welt ist voller Inspiration dafür.

Doch wie lässt sich dieser Ansatz im Alltag integrieren? Ich habe folgendes für meinen persönlichen Alltag ausprobiert:

  • Ich habe den Browser auf meinem Handy deaktiviert. Löschen kann ich ihn nicht, aber ich habe ihn über die Kindersicherungs-Einstellungen gesperrt. Wenn ich „mal schnell“ etwas im Netz nachschauen möchte, ist das sehr aufwendig: Einstellungen, Kindersicherung, Passwort, Browser aktivieren, … – und am Ende wieder alles zurückstellen!
  • Seit zwei Jahren lese ich unterwegs keine E-Mails. Das mache ich nur am Desktop-PC – und ich habe noch nie etwas verpasst. Alle E-Mails waren auch noch da, als ich sie nach 16:45 Uhr (meine persönliche E-Mail-Zeit) las. Wer hätte das gedacht?
  • Hauptsächlich benutze ich mein Handy, um Gedanken festzuhalten – eine Notizbuch-Software, die Kamera – all dies hilft mir, gute Einfälle festzuhalten und später noch einmal anzuschauen.
  • Die Handys von meiner Frau und mir schlafen nicht im Schlafzimmer – sondern im Wohnzimmer. Wir haben uns analoge Wecker gekauft, die uns noch nie im Stich gelassen haben. Und die Verlockung, morgens als erstes aufs Handy zu schauen, haben wir auch noch nicht vermisst. Es ist schöner, wenn der Tag mit Kaffee beginnt, und nicht mit Informations-Fast Food.
  • Unsere Handys haben wir während der letzten drei Urlaube Zuhause gelassen. Wir haben uns ein Billig-Handy mit einer eigenen SIM-Karte gekauft, deren Nummer niemand hat. So können wir im Notfall jemanden anrufen, sind aber selbst nicht erreichbar. Wir haben die Menschen, die in der Hotellobby nach WLAN suchten, sehr bemitleidet. Unser Urlaub war toll – wir haben uns verlaufen, mussten fremde Menschen nach dem Weg fragen, wir besuchten grausige Restaurants: Doch summa summarum war es fantastisch, unvergesslich – und frei von Unterbrechungen.

Ich versuche also, um die eingangs genannte Metapher aufzugreifen, den Inhalt meines „Informationskühlschranks“ auszutauschen: Weniger Fast Food, mehr Material zum selbst Kochen. Denn Kreativität liegt in der Natur des Menschen – und selbst gekocht schmeckt einfach besser als vorgekaut.

 

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